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Unser Vergessen baut die Gitter

Am 26. April jährte sich die Möglichkeit des sogenannten Unmöglichen, das Reaktorunglück von Tschernobyl, auf Wikipedia ignorant als „Naturkatastrophe“ bezeichnet, demnach um eine natürlich entstandene Veränderung, bei welcher nicht Menschen die Verursacher der Katastrophe in der Natur waren. Während weiterhin Menschen nach dem Prinzip „aus den Augen, aus dem Sinn“ genussvoll ihre Becquerels verzehrten, und andere mit dem Kopf gegen die Wand rennen, um den schleichenden Mord aufzuhalten, reihte sich Unfall an Unfall, schritten die verantwortlichen Optimisten mit beschwichtigenden Gesten über die Gräber der Opfer. Auch statistische Tote sind Tote. Dass die Sowjetunion aus Staatsräson über Leichen ging, ist nicht neu, dass die Bundesregierung ebenso Leichen in Kauf nimmt, ist schockierend, und nicht minder Barbarei. Die Sorge und der Widerstand schützt den verantwortungsbewussten Bürger nicht vor der Notwendigkeit, Nahrung zu sich zu nehmen; auch er muss essen, was auf den Tisch kommt, und künstlich erzeugte radioaktive Strahlung macht um niemand einen Bogen. Ihm bleibt die Mühe, möglichen Etikettenschwindel zu erkennen, oder ihm ausgeliefert zu sein.

(c) Woche

Es jährt sich, dass Kindern auf die Finger geschlagen wurde, weil sie den Rasen berührten. Es jährt sich, dass Sandkästen weggebaggert werden mussten, und Kinder vor verschlossenen Bädern standen. Es wurde notwendig, unsere Kinder vor den Auswirkungen unseres Willens zu schützen, sie einzusperren, ihnen Dinge zu verbieten, die uns als Kinder selbstverständlich waren. Die Korsette werden enger, wir bauen uns unser eigenes Gefängnis, unser Vergessen baut die Gitter. Wer denkt schon leicht über Dinge nach, die man nicht schmeckt, die man nicht riecht, und die man nicht sieht. Keiner der Sinne unterstützt den Kampf gegen unsichtbaren Mord.

(c) Nübler

Man sagte uns, wir seien sicher – und zur gleichen Zeit wurden in der Bundesrepublik Deutschland Mitbürger kontaminiert – sprich: vergiftet. Man erlaubte sich sogar die Unverfrorenheit, zu posaunen, der Vergiftete sei „quietschvergnügt und quicklebendig“, weil ihm wahrscheinlich noch nicht die Haare ausgefallen und verschwieg, dass man erst der noch lebendigen Leiche ansieht, dass sie nie wieder quicklebendig und quietschvergnügt sein wird. Das Gift hat Zeit und nutzt sie.

Die Sorge würde als Panikattacke verlacht, Verantwortung als Querulanz verteufelt. Man wird später sicher Entschuldigungen für das Verbrechen des Nichtstuns, des Schweigens und der Beschwichtigung finden.

Es ist völlig gleichgültig, ob aufgrund  eines radioaktiven Fallouts zwei oder zweitausend statistische Tote zu verzeichnen sind, denn bereits ein Toter ist einer zu viel. Beklagen wird die Toten niemand, denn sie wurden bewusst von uns als statistisches Schlachtvieh zum Altar der Menschenopfer zitiert. Sie sind berechnet, und Opfer der Berechnung. Sie sind wirtschaftlich vertretbar laut Strahlenschutzverordnung, also wirtschaftlich vertretbare statistische Morde. Die Klage eines Bürgers über die Ausbringung von mit 14000 Becquerels belastetem Klärschlamm Monate nach Tschernobyl auf die Felder bayerischer Bauern wurde vom Umweltministerium mit der lapidaren Begründung abgeschmettert, die Strahlenschutzverordnung gelte nur für den „willentlichen Umgang“ mit radioaktiver Strahlung, und sei somit nicht zuständig.

(c) MZ Archiv

Von Oscar Wilde ist dieser Satz überliefert:  „Erfahrung ist die härteste Art von Lehrer. Sie gibt dir zuerst den Test und die Lehre danach.“ Ihm war wohl vorhandene Unbelehrbarkeit der Masse noch unbekannt an diesem Zeitpunkt.

Es bleibt nur ein Nachruf. Menschen werden vermutlich immer erst verstehen, wenn sie vor den Mahnmälern ihrer Vergangenheit stehen. Für untätiges Hoffen gibt es keine Entschuldigung, weder heute noch morgen. Es bleibt weiterhin jeder Tag ein möglicher Jahrestag irgendeines „Tschernobyl“.

Herzlichen Dank!

Ich möchte mich ausdrücklich bei dem Pharmaunternehmen Kerecis in Ísafjörður bedanken. Mein Freund, Dr. Roget in Frankreich und ich nahmen 2 Jahre an dem Test des Nasensprays Viruxal in-vivo teil, dessen Produktion Ende 2022 eingestellt wurde. Alle unsere Familienmitglieder erkrankten an Covid-19, trotz mehrfacher Impfung, nur Dr. Roget und ich selbst blieben verschont.

Villa Pasteur in Paris

Hat jemand vielleicht Interesse an einer Reise nach Paris? Falls alle Hotels belegt sind, kann ich die Villa Pasteur sehr empfehlen.

Die Villa Louis Pasteur ist eine internationale wissenschaftliche Einrichtung und ein Exzellenzzentrum, das sich den Beziehungen zwischen Unternehmen und öffentlicher Forschung widmet.

Im Gegensatz zu einem Hotelzimmer gibt es in der Villa Pasteur sogar eine Küche, welche mit Geschirr ausgestattet ist.  

Schleckermäuler können sich gleich ums Eck in der Pâtisserie Julien Filoche mit höchst delikaten Petit Four eindecken.

Lust auf Nachtleben in Paris, dort, wo „der Punk abgeht“? Kein Problem. Ich empfehle die Rue Mouffetard, ebenfalls in der Nähe, zum Panthéon hoch s ins Quartier Latin zu spazieren und sich unters Volk zu begeben.

Vegetarier? Auch kein Problem, in der Straße befindet sich das Restaurant CHAM – Restaurant Syrienne. Falafel-Rolle und Hummus sind selbst gemacht und höchst lecker.

Lust auf Literatur und Haptiker? Null problemo, ums Hauseck rum und bei Le Point Du Jour stöbern, bis die Hände abfallen. Alle Sprachen, alle Themenbereiche, so viele, dass sich die Bücher Luft verschaffen wollen und auf die Straße quellen. Wie wäre es mit dem 21. Band „Poétique“ (Revue de théorie et de analyse littéraires – Littérature et Philosophie), oder „Sémantique structurale – Langue et Langage“, und für solche, welche an Geschichte interessiert: „Radicals – Politics and Republicanism in the French Revolution“. Es findet sich für jeden etwas, wetten?

Die Küche im Zimmer der Villa Pasteur stellt einen Kaffeebereiter zur Verfügung, so dass auch ein Kaffee auf französische Art zubereitet werden kann. Diese Methode erhöht nicht nur das Aroma des Kaffees, sondern reduziert auch noch die Säure auf 10 %  jenes Kaffees, welcher in Kaffemaschinen durch Filter läuft. Womit der Tag auch streng nach dem isländischen Leitsatz beginnen kann: There is no life before coffee. Ich empfehle den Kaffeegenuss „Like the future, dark and bitter“.

Die Wege sind kurz. Um zum Beispiel zu einer Vorlesung in das Audi Max zu gelangen, einfach das Zimmer verlassen und der Länge nach hinfallen, schon bekommt man im Hörsaal die Story vom wilden Pferd zu hören. Einmal ausprobieren. Ist sicherlich viel unterhaltsamer als ein Abend im Crazy Horse und dazu auch noch viel billiger.

Ein Weihnachtsmärchen

Da die nächsten Tage allgemein mit dem Eigenschaftswort „besinnlich“ verknüpft werden, gewährt bekanntlich die Trollfrau Gryla auf Island alljährlich ab dem 12. Dezember ihren 13 Söhnen (Jólasveinar) Freigang, jeden Tag ein weiterer, welcher sich daraufhin unters Volk mischt:

12. Dezember    Stekkjarstaur – ist vor allem an der Milch der Schafe interessiert
13. Dezember    Giljagaur – er mag sehr gerne den Schaum der Kuhmilch
14. Dezember    Stúfur – schätzt angebrannte Reste in einer Pfanne
15. Dezember    Þvörusleikir – schleckt gerne Kochlöffel blitzblank
16. Dezember    Pottasleikir – macht sich an den Resten in Kochtöpfen zu schaffen
17. Dezember    Askasleikir – schätzt den Inhalt hölzener Schüsseln (Askur)
18. Dezember    Hurðaskellir – schlägt am liebsten laut Türen zu
19. Dezember    Skyrgámur – ist gierig nach isländischem Skyr (nicht zu verwechseln mit dem, was in Deutschland fälschlicherweise unter dem Namen „Skyr“ verkauft wird!)
20. Dezember    Bjúgnakrækir – macht Jagd auf geräucherte Würste
21. Dezember    Gluggagægir – glotzt gerne durch Fenster in Wohnungen (was auch gerne Passagiere einlaufender Kreuzfahrtschiffe tun)
22. Dezember    Gáttaþefur – schnüffelt gerne nach frischem Weihnachtsbrot (Laufabrauð)
23. Dezember    Ketkrókur – schon ist der Weihnachtsbraten futsch
24. Dezember    Kertasníkir – klaut Kerzen.

Da die isländischen Kinder dies wissen, stellen sie jeden Abend während der 13 Tage ihre Schuhe auf den Fenstersims, für den Fall, dass die Trolle etwas mitbringen. Das kann gut gehen, oder auch nicht, denn die Trolle überreichen ihre Gabe in Abhängigkeit davon, ob das Kind Unsitten hat einreißen lassen oder das Jahr über gesittet handelte. Gab es Anlass zur Beanstandung, so fand das Kind am nächsten Morgen eine Kartoffel im Schuh, als Zeichen dafür, dass es bitte nächstes Jahr etwas zur Besinnung kommen möge.

Nun, der aufgeklärte Mensch der wissenschaftsbasierten Informationsgesellschaft mag dies für ein Märchen halten. Allerdings sind Isländer abwägende Menschen, und gehen lieber auf Nummer sicher, was dazu führt, dass Straßen in Ísland gelegentlich einen Bogen um einen Findling machen, denn es könnte sich ja darunter ein Tröll befinden, und deren Rache ist allgemein gefürchtet. Man weiß ja nie …

Die überwiegende Masse der aufgeklärten Menschen außerhalb von Ísland tangiert das nur peripher. Genügt diesen doch – so ist zu lesen – bereits der Glaube zu wissen, wo der Bartl den Most holt, so dass auch Halbwissen vollauf genüge, um sich sein Vorurteil bilden zu können; in der Regel auf simplen Pauschalisierungen gegründet, denn es wäre doch eindeutig zu viel verlangt, sich auch noch um eine differenzierte Betrachtungsweise bemühen zu sollen.

Und somit steht nicht zu befürchten, dass einer einen Schaden dadurch erleide, würde dem isländischen Märchen ein weiteres Märchen aus einem anderen Land hinzugefügt. Das Märchen von Oumi Khadischa.

Jenseits des Begriffs „Kulturen“, dem Plural eines heiß umworbenen, strittigen und daher undefiniertem Singulars, den irgendwelche Dumpfbacken 1996 zum Anlass nahmen, von einem „Kampf der Kulturen“ (The Clash of Civilisations) zu faseln, um sich als hilfreiche „Weltpolizei“ aufspielen zu dürfen, wäre schon viel gewonnen, sollte einem Leser im Bedarfsfalle auch noch dämmern, dass der Plural von „Kultur“ und allem, was damit aus niedrigen Beweggründen heraus kolportiert wird, nur grober Unfug sein kann. Was da bisweilen mit dem Plural „Kulturen“ kolportiert wird, erfüllt noch nicht einmal die Mindestanforderungen an eine „Zivilisation“, da eine solche zwischen „Zivilisation“ und „Sitte / Brauch“ zu unterscheiden wüsste, wie zum Beispiel das isländische Wort „menning“ (Kultur) belegt, welchem im Kontrast hierzu signifikante Benennungen gegenüberstehen: háttur, lenska, siður (Brauch/Sitte), siðvenja (Tradition), vani (Angewohnheit, Gepflogenheit, Gewohnheit) und venja (Praxis).

Oumi Khadischa war die Urenkelin jener Frau, zu deren Ehren zwischen Menzel Bourguiba und Mateur auf einem Hügel ein Marabout errichtet wurde, welcher ihren Leichnam birgt.  Zu diesem Marabout führen genau 100 Stufen und jede Stufe hatte eine gewisse Bedeutung. Unten, neben der ersten Stufe, war ihr Ehemann bestattet. Nun, dies ist weder eine Herabwürdigung noch eine Geringschätzung. Verhält es sich doch so, dass in jener Gemeinschaft, welche das Marabout für Oumi Khadischas Urgroßmutter errichtete, die Frau der Herr im Haus ist und der Ehemann nur Gast. So darf der Ehemann in jener Gemeinschaft nur jemanden in das Haus einladen, wenn er vorher seine Ehefrau gefragt und diese es gestattet habe. Seine Ehefrau hingegen kann einladen wen immer sie will, ohne ihren Ehemann fragen zu müssen. Ist dem Ehemann der Gast nicht willkommen, so verweist ihn die Ehefrau auf seine Möglichkeit, die ihm frei stehe und niemand übel nehmen werde: Das Haus hat zwei Türen.

Es handelt sich demnach nur um die Fortsetzung dieser Regel über den Tod hinaus, ist doch das Marabout das Haus von Oumi Khadischas Urgroßmutter, welches auch oft von zahllosen Leuten aufgesucht wird und diese auch alle stets willkommen sind, da diese sich spirituellen Beistand erbitten. Allerdings könnte der Ehemann nicht mehr die Möglichkeit der zwei Türen nutzen, sollte ihm ein Besucher missfallen.

Zu Lebzeiten war es für beide viel einfacher. Er ging außer Haus und kam nach der Verabschiedung des Gastes wieder zurück. Sollte der Besucher hingegen unerwartet vor der Tür stehen und als Gast für beide Ehepartner nicht willkommen sein, so verbietet es die gute Sitte, den Besucher abzuweisen. Der Besucher wird folglich freundlich hereingebeten und erhält wie jeder Gast zuerst einen arabischen Kaffee, bevor der Plausch beginnt.

Kaffee ist bekanntlich jenes Getränk, welches die Eigenschaft besitzt, den Blutkreislauf etwas anzuregen, womit das Gehirn etwas besser durchblutet wird, was geeignet ist, die geistigen Fähigkeiten zu fördern. Einst aus Äthiopien von Karawanen durch die Wüste in den Norden transportiert, trat der Kaffee seinen Siegeszug in die ganze Welt an, von den arabischen Ländern über die Türkei nach Wien, um dann in Folge – vom Wiener Cafe ausgehend – in so seltsamen Establishments jämmerlich und geschmacklos  zu verenden, welche so unverständliche Namen wie zum Beispiel “Starbucks” tragen.

Dieser Brauch, bei arabischem Kaffee zu plauschen, eröffnet den beiden Ehepartnern die Möglichkeit, dem Besucher nonverbal mitzuteilen, dass er hier in diesem Haus unerwünscht sei. Verhält es sich doch so, dass in arabischen Ländern der Kaffee aromatisiert getrunken wird, somit nicht nur Kaffee und Zucker in das Wasser gegeben wird, sondern auch Kardamom, Rosenwasser, etc., je nach Gusto. Wird allerdings ein ungebetener Gast bewirtet, so kommen die Aromen bei der Zubereitung des Kaffees nicht in den Kaffeepott, sondern in die Tassen, mit Ausnahme jener Tasse selbstverständlich, welche der Besucher bekommt. Ist der Besucher intelligent, wird er von weiteren Besuchen Abstand nehmen. Böse Zungen behaupten, dass dies die Ursache sei, warum der Kaffee in arabischen Ländern aromatisiert getrunken wird und in der Türkei nur als Mokka.

Doch nicht nur die Aromen ermöglichen bei Zusammenkünften eine nonverbale Kommunikation. Begibt sich zum Beispiel ein junger Mann auf Brautschau, so ist es gute Sitte, dass der junge Mann mit seinem Vater um die Hand der Tochter bei deren Vater anhält, denn es gebietet der Respekt, dass entscheidende Unterhaltungen auf Augenhöhe stattfinden, also zwischen einer Generation, und nicht zwischen einer Generation und einer nachgekommenen Generation. Der Plausch beginnt mit dies und das, denn es gilt als unfreundlich, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Dies gibt der Angebeteten die Möglichkeit, den arabischen Kaffee zuzubereiten. Was tut diese? Sie entscheidet, ob der Zucker in den Kaffeepott kommt, oder in die Tassen. Möchte sie den Antrag des jungen Mannes annehmen, so kocht sie den Kaffee mit Zucker, lehnt sie den Antrag des jungen Mannes ab, so kommt der Zucker in die Tassen, allerdings nicht in die Tasse des jungen Mannes. Ist der Bursche intelligent genug, dann signalisiert er seinem Vater, dass er noch einen anderen wichtigen Termin habe, womit die Väter den Plausch ausklingen lassen und sich voneinander verabschieden. Ist jedoch der Kaffee des Burschen gesüßt, signalisiert er seinem Vater, dass seine Angebetete den Antrag annehmen werde. Die Besprechung der Hochzeit kann beginnen.

Allerdings stürzt sich damit der junge Mann in erhebliche Schulden, muss er doch vor der Hochzeit das Brautgeld in Gold bei seiner Angebeteten abgeben. Menschen, bei denen das Maul größer ist als das Wissen, erzählen gerne, es würde die Braut damit verkauft wie Kamele und das Gold von den Eltern der Braut vereinnahmt. Sie verkünden damit nur ihr Unwissen, denn tatsächlich verhält es sich bei jener Gemeinschaft so, dass das Gold tatsächlich die Braut erhält, es ihr ungeteiltes Eigentum bis an ihr Lebensende bleibt, denn es handelt sich bei dem Gold um die Absicherung der Ehefrau für jenen Fall, bei dem sich der Bursche später als wankelmütiger Geselle herausstellt, sich woanders herumtreibt statt wie versprochen bei seiner Ehefrau, demnach um den vorgezogenen Scheidungsunterhalt. Dieses Gold gehört der Frau allein und ist niemals Gegenstand einer Erbschaft. Die Frau selbst ruft später, bevor sie stirbt, am Krankenbett die Begünstigten nach ihrer Wahl zu sich und gibt jedem Gerufenen nach eigenem Gutdünken einen Teil des Goldes.

Da es sich in diesem Land allerdings so verhält, dass die jungen Menschen nicht so vermögend sind oder sogar arbeitslos, damit den jungen Burschen ein großes Unrecht zugefügt wird, da sie somit nicht heiraten können, andererseits der Angebeteten großes Unrecht zugefügt wäre, müsste sie auf ihre Absicherung verzichten, traf Oumi Khadischas Urgroßmutter eine Entscheidung, welche seitdem gute Sitte in jener Gemeinschaft  ist. Sollte die Braut auf das Gold selbst verzichten wollen, steht es ihr frei, bei allen Familienangehörigen um kleine Münzen zu bitten, bis sie 69 Miilimes eingesammelt hat. Diese übergibt sie dann ihrem zukünftigen Ehemann, auf dass er die 69 Millimes ihr öffentlich als sein Brautgeld überreichen könne. In diesem Fall ist jeder Familienangehörige dazu verpflichtet, die Hochzeit zu billigen und kraftvoll zu unterstützen.

Oumi Khadischa  war es immer eine Lust, in Pariser Geschäften den für sie passenden Schal auszusuchen; modisch genug hatte er zu sein, um ihre Weltoffenheit preiszugeben, jedoch in Farben gehalten, die ihrer tiefen Verbundenheit mit der Natur nicht widersprachen. In seiner Aufmachung und Ornamentik war dabei auf den Status ihres Stammes genauso zu achten, wie auf die Stellung, die sie innehatte. Seit sie den Titel Hajji sich erwarb, bevorzugte sie als Zeichen ihrer Würde nur noch jenen weißen Schal, der nur einer Hajji zustand.

Eines Tages, sie wollte nach ein paar Jahren wieder Europa besuchen, bat sie darum, ihr die für Besuche in Deutschland erforderliche Bürgschaftserklärung zuzusenden, da sie noch einmal reisen möchte, um die neuen Enkelkinder zu sehen, bevor sie sterbe.

Im Zuge von 9/11 hatte jedoch das deutsche Auswärtige Amt mit der tunesischen Regierung vereinbart, dass Tunesier, die ein Touristenvisa bei der deutschen Botschaft in Tunis beantragen, nun persönlich in der dortigen Visa-Abteilung zu erscheinen hätten, ungeachtet des Alters der Person, und selbst ihre Papiere vorzulegen haben. Weibliche Besucher dürften dabei im Gegensatz zu früherer Praxis die deutsche Botschaft nur noch ohne Kopfbedeckung betreten.

So machte sich Oumi Khadischa , schon von ihrer schweren Krankheit gezeichnet, notgedrungen selbst auf den Weg nach Tunis, um sich in die Schlange der Antragssteller einzureihen, die bereits lange vor Sonnenaufgang vor dem Eingang der deutschen Visa-Abteilung ausharrten, um innerhalb der Öffnungszeiten noch ihren Antrag einreichen zu können, und nicht nach vergeblichem stundenlangen Warten vor dann verschlossenen Türen unverrichteter Dinge wieder heimkehren zu müssen.

Als sie nach mehreren Stunden endlich an dem vor dem Eingang wachhabenden Polizeibeamten stand, forderte dieser sie weisungsgemäß auf, ihren Schal abzulegen, da das Betreten der Visa-Abteilung nur ohne Kopfbedeckung erlaubt sei. Oumi Khadischa  fragte ihn, ob er denn wisse, mit wem er da spreche, und ob man ihm als Kind nicht den Respekt beigebracht hätte, den man alten Frauen schuldig sei. Das brachte den jungen Polizeibeamten in arge Verlegenheit, war er doch nur ein junger Bursche, sie hingegen eine alte Frau, noch dazu eine Hajji, welcher er damit bereits aus zwei Gründen Respekt entgegenzubringen hatte; auch erregte der Disput bereits die Aufmerksamkeit der umstehenden Neugierigen.

In seiner Not erklärte er Oumi Khadischa , dass er seinen Job verlieren würde, sollte er sie mit dem Schal in die deutsche Botschaft lassen. Da nahm sie plötzlich den Schal ab, drückte diesen dem jungen Burschen in die Hand, und trug ihm auf, ihren Schal solange in Sicherheitsverwahrung zu nehmen, auf ihn sorgfältig aufzupassen und ihn ja nicht aus den Händen zu geben, bis sie aus der deutschen Botschaft zurückgekehrt sei.

Ließ den jungen Mann mit hochrotem Kopf zurück, auf das Peinlichste vor allen Umstehenden bloßgestellt; ein stattlicher junger Kerl in Uniform, der Öffentlichkeit preisgegeben, ausgerechnet mit einem Damenschal in seiner Hand, noch dazu mit einem Schal einer Hajji, als respektabler Polizist, als Respektsperson, nun von allen Wartenden grinsend begafft.

Als Oumi Khadischa  aus der Visa-Abteilung zurückkehrte, nahm sie ihren Schal wieder an sich, und fragte den Polizisten, ob er nicht genug Anstand hätte, da er sich bei ihr nicht bedanke; um dann dem Beamten, der nur verblüfft und fragend in seiner offensichtlichen Betretenheit die alte Frau anstarrte, zu erklären, dass sie ihm immerhin gerade seinen Arbeitsplatz gerettet habe.

Sagte es, und verschwand in der wartenden Menge; durch die weite Gasse, die ihr die Wartenden respektvoll anboten.

Verhält es sich doch so, dass der Polizist wie alle Menschen eine abhängige Kreatur ist, wozu ihm also zusätzliches und unnötiges Leid bescheren.

In diesem Sinne wünschen wir allen Lesern besinnliche Feiertage und einen guten Rutsch ins neue Jahr.

Last will of a bird

Copyright (c) Peter Ettl

When I go to death
don’t talk about me
don’t listen to others speech
Let me take my rest
I have never found in life
Sentences from my lips
always died before birth.

When I go to death
don’t let others walk behind
don’t let others go ahead
Leave me in that place
as  it was in life
Never I had followed others
and I refuse
that others follow me.

When I go to death
don’t set a stone in place
don’t write my name
Let me stay in death
how I stayed in life
I wish, that my friends
visit me freely
the snow,the sun
the rain, the wind.

Brief von Amadou Hampâté Ba an die Jugend

Derjenige, der zu euch  spricht, ist einer der Erstgeborenen des zwanzigsten Jahrhunderts. Er lebte also lange und sah und hörte, wie ihr euch vorstellen könnt, vieles in der weiten Welt. Er erhebt in keiner Weise den Anspruch, ein Meister zu sein. Er wollte vor allem ein ewiger Forscher, ein ewiger Student sein, und sein Lerndurst ist heute noch so groß wie in den Anfängen.

Er begann damit, in sich selbst zu schauen, sich selbst zu entdecken und zu kennen, um sich in seinem Nächsten zu erkennen und ihn entsprechend zu lieben. Er möchte, dass jeder von euch  dasselbe tut.

Nach dieser schwierigen Suche unternahm er viele Reisen um die Welt: Afrika, Naher Osten, Europa, Amerika. Als Schüler ohne Komplexe oder Vorurteile suchte er die Lehren aller Meister und aller Weisen, die er treffen konnte.

Er hörte ihnen gehorsam zu. Er hat ihre Worte gewissenhaft aufgezeichnet und ihre Lektionen objektiv analysiert, um die verschiedenen Aspekte ihrer Kulturen vollständig zu verstehen, denn das große Problem des Lebens ist die gegenseitige Kommunikation.

Gewiss, ob Individuen, Nationen, Ethnien oder Kulturen, wir sind alle voneinander verschieden; aber wir alle haben auch etwas ähnliches, und das muss man suchen, um sich im anderen wiedererkennen und mit ihm sprechen zu können. So werden unsere Unterschiede, anstatt uns zu trennen, zu Komplementarität und zu einer Quelle gegenseitiger Bereicherung.

So wie die Schönheit eines Teppichs auf der Vielfalt seiner Farben beruht, macht die Vielfalt der Menschen, Kulturen und Zivilisationen die Schönheit und den Reichtum der Welt aus. Wie langweilig und eintönig wäre eine einheitliche Welt, in der alle Menschen nach dem gleichen Vorbild gleich denken und gleich leben! Wenn man bei anderen nichts mehr zu entdecken hat, wie könnte man sich bereichern?

In unserer Zeit voller Bedrohungen aller Art müssen sich Menschen nicht mehr auf das konzentrieren, was sie trennt, sondern auf das, was sie gemeinsam haben, während sie die Identität des anderen respektieren. Anderen zu begegnen und ihnen zuzuhören ist immer lohnender – auch für die Entwicklung der eigenen Identität – als Konflikte und sterile Diskussionen, um den eigenen Standpunkt durchzusetzen.

Ein alter Meister aus Afrika sagte: Es gibt „meine“ Wahrheit und „deine“ Wahrheit, die sich nie treffen. „Die“ Wahrheit liegt in der Mitte. Um sich ihr zu nähern, muss sich jeder ein wenig von “seiner” Wahrheit lösen, um einen Schritt auf den anderen zu machen…

Junge Menschen, ihr letzten Geborenen des 20. Jahrhunderts, ihr lebt in einer Zeit, die sowohl beängstigend in Bezug auf die Bedrohungen für die Menschheit als auch aufregend in Bezug auf die Möglichkeiten ist, die sich im Bereich des Wissens und der Kommunikation zwischen Menschen eröffnet. Die Generation des 21. Jahrhunderts wird ein fantastisches Aufeinandertreffen von Ethnien  und Ideen erleben. Je nachdem, wie sie  dieses Phänomen assimiliert, wird es ihr Überleben sichern oder durch tödliche Konflikte deren Zerstörung herbeiführen.

In dieser modernen Welt kann sich niemand mehr in seinen Elfenbeinturm flüchten. Alle Staaten, ob stark oder schwach, reich oder arm, sind jetzt voneinander abhängig, sei es nur wirtschaftlich oder angesichts der Gefahren eines internationalen Krieges.

Ob es ihnen gefällt oder nicht, die Menschen werden auf demselben Boot eingeschifft: dass ein Hurrikan aufzieht und alle gleichzeitig bedroht werden. Ist es nicht besser zu versuchen, einander zu verstehen und zu helfen, bevor es zu spät ist?

Gerade die gegenseitige Abhängigkeit der Staaten erzwingt eine unverzichtbare Komplementarität von Menschen und Kulturen. Heutzutage ist die Menschheit wie eine große Fabrik, in der wir am Fließband arbeiten: Jedes Teil, ob klein oder groß, hat eine bestimmte Rolle zu spielen, die den reibungslosen Ablauf der gesamten Fabrik bestimmen kann.

Derzeit prallen Interessenblöcke in der Regel aufeinander und reißen sich gegenseitig auseinander. Vielleicht liegt es an euch, ihr jungen Leute, nach und nach eine neue Geisteshaltung herbeizuführen, die mehr auf Komplementarität und Solidarität ausgerichtet ist, sowohl individuell als auch international. Dies wird die Bedingung des Friedens sein, ohne die es keine Entwicklung geben kann.

Ich wende mich jetzt an euch, junge Schwarzafrikaner. Vielleicht fragen sich einige von euch, ob unsere Väter eine Kultur hatten, da sie keine Bücher hinterlassen haben? Ist es denen, die so lange unsere Herren des Lebens und Denkens waren, nicht fast gelungen, uns glauben zu machen, dass ein Volk ohne Schrift ohne Kultur sei?

Aber es ist wahr, dass die erste Sorge eines jeden Kolonisators (zu jeder Zeit und woher er auch immer kam) immer darin bestand, das Land energisch zu roden und die lokalen Feldfrüchte zu entwurzeln, um mit seinen eigenen Werten zufrieden zu säen.

Glücklicherweise haben sich dank der Arbeit afrikanischer und europäischer Forscher Meinungen auf diesem Gebiet entwickelt, und es wird jetzt anerkannt, dass lokale Kulturen authentische Quellen des Wissens und der Zivilisation sind.

Ist die Sprache nicht sowieso die Mutter der Schrift, und ist diese nicht etwas anderes als eine Art Foto des Wissens und des menschlichen Denkens?

Die Völker der schwarzen Ethnie, die keine Schriftvölker sind, haben die Sprachkunst in ganz besonderer Weise entwickelt. Obwohl nicht geschrieben, ist ihre Literatur nicht weniger schön.

Wie viele Gedichte, Epen, historische und ritterliche Geschichten, didaktische Erzählungen, Mythen und Legenden mit bewundernswerten Worten wurden so durch die Jahrhunderte überliefert, treu getragen von der erstaunlichen Erinnerung von Menschen der Mündlichkeit, leidenschaftlich verliebt in die schöne Sprache und aller Dichter.

Von all diesem literarischen Reichtum in ständiger Schöpfung hat nur ein kleiner Teil damit begonnen, übersetzt und genutzt zu werden. Es bleibt noch eine gewaltige Sammlungsarbeit mit jenen zu leisten, die die letzten Hüter dieses Erbes der Vorfahren sind, das leider auf dem Weg zum Verschwinden ist. Was für eine aufregende Aufgabe für diejenigen unter Ihnen, die sich ihr widmen werden!

Aber Kultur ist nicht nur mündliche oder schriftliche Literatur, sie ist auch und vor allem eine Lebenskunst, eine besondere Art des Verhaltens gegenüber sich selbst, seinen Mitmenschen und allen Menschen, die die Natur umgeben. Es ist ein Weg, die Rolle und den Platz des Menschen innerhalb der Schöpfung zu verstehen.

Die traditionelle Zivilisation (ich spreche vor allem von Afrika von der Savanne bis zum Süden der Sahara, was ich genauer kenne) war vor allem eine Zivilisation der Verantwortung und Solidarität auf allen Ebenen. In keinem Fall war ein Mensch, wer auch immer es war, isoliert. Wir hätten niemals eine Frau, ein Kind, einen Kranken oder einen alten Mann wie ein Ersatzteil am Rande der Gesellschaft leben lassen. Innerhalb der großen Familie gab es für ihn immer einen Platz, wo auch der vorbeikommende Fremde Unterschlupf und Nahrung fand. Der Gemeinschaftsgeist und das Gefühl des Teilens prägten alle menschlichen Beziehungen. Das Reisgericht, wie bescheiden es auch sein mochte, stand allen offen.

Der Mensch identifizierte sich mit seinem Wort, das heilig war. Häufig wurden Konflikte durch „palabre“ friedlich beigelegt: „Zusammenkommen zum Diskutieren“, sagt ein Sprichwort, „beruhigt alle und vermeidet Zwietracht“.

Die Ältesten, angesehene Schiedsrichter, wachten über die Wahrung des Friedens im Dorf. „Peace!“, „Peace only“, sind die Schlüsselworte aller afrikanischen Ritualgrüße.

Eines der großen Ziele von Einweihungen und traditionellen Religionen war der Erwerb der totalen Selbstbeherrschung und des inneren Friedens durch jeden Einzelnen, ohne den es keinen äußeren Frieden geben kann. Im Frieden und nur im Frieden kann der Mensch eine Gesellschaft aufbauen und entwickeln, während der Krieg in wenigen Tagen ruiniert, was Jahrhunderte gedauert hat, um aufgebaut zu werden.

Der Mensch wurde auch für das Gleichgewicht der umgebenden Natur verantwortlich gemacht. Es war ihm verboten, ohne Grund einen Baum zu fällen, ohne triftigen Grund ein Tier zu töten. Das Land war nicht sein Eigentum, sondern ein vom Schöpfer anvertrautes heiliges Gut, dessen Verwalter er war. Dieser Begriff gewinnt heute seine volle Bedeutung, wenn wir an die Leichtigkeit denken, mit der die Menschen unserer Zeit die Reichtümer des Planeten ausschöpfen und sein natürliches Gleichgewicht zerstören.

Sicher, wie jede menschliche Gesellschaft hatte auch die afrikanische Gesellschaft ihre Exzesse und Schwächen. Es liegt an euch, junge Männer und Frauen, Erwachsene von morgen, missbräuchliche Bräuche von sich aus verschwinden zu lassen und gleichzeitig positive traditionelle Werte zu bewahren.

Das menschliche Leben ist wie ein großer Baum und jede Generation ist wie ein Gärtner. Der gute Gärtner ist nicht derjenige, der entwurzelt, sondern derjenige, der abgestorbene Äste zu beschneiden weiß und, wenn nötig, sinnvoll mit nützlichen Pfropfreisern vorgeht. Den Baumstamm  abzuschneiden wäre Selbstmord, der eigenen Persönlichkeit abzuschwören, die der anderen künstlich zu unterstützen, ohne jemals ganz erfolgreich zu sein. Erinnern wir uns auch hier wieder an das Sprichwort: „Das Stück Holz mag im Wasser bleiben, es mag schwimmen, aber ein Kaiman wird es nie!“.

Seid, junge Leute, dieser gute Gärtner, der weiß, dass ein Baum tiefe und starke Wurzeln braucht, um hoch zu wachsen und seine Zweige in alle Richtungen des Raumes auszubreiten. So werdet ihr, gut in euch verwurzelt, euch ohne Angst und ohne Schaden nach außen öffnen können, sowohl zum Geben als auch zum Empfangen.

Für diese umfangreiche Arbeit sind zwei Werkzeuge für euch unerlässlich: erstens die Vertiefung und Bewahrung eurer Muttersprachen, unersetzliche Träger unserer spezifischen Kulturen; dann die perfekte Kenntnis der von der Kolonialisierung geerbten Sprache (für uns die französische Sprache ), ebenso unersetzlich, um nicht nur die Kommunikation und das bessere Kennenlernen der verschiedenen afrikanischen Volksgruppen zu ermöglichen, sondern auch um uns nach außen zu öffnen und mit den Kulturen der ganzen Welt in Dialog zu treten .

Junge Menschen Afrikas und der Welt, das Schicksal hat es so gewollt, dass ihr am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, am Beginn einer neuen Ära, wie eine Brücke seid, die zwischen zwei Welten geschlagen wird: die der Vergangenheit, wohin alte Zivilisationen nur streben, euch ihre Schätze zu hinterlassen, bevor sie verschwinden, und die der Zukunft, natürlich voller Ungewissheiten und Schwierigkeiten, aber auch reich an neuen Abenteuern und aufregenden Erfahrungen. Es liegt an euch, die Herausforderung anzunehmen und dafür zu sorgen, dass es keinen militanten Bruch gibt, sondern eine ruhige Fortsetzung und Befruchtung von einer Ära zur nächsten.

Erinnere dich in den Wirbelstürmen, die dich mitreißen, an deine alten Werte der Gemeinschaft, Solidarität und des Teilens. Und wenn du das Glück hast, ein Reisgericht zu haben, iss es nicht alleine!

Wenn Konflikte drohen, erinnert euch an die Tugenden des Dialogs und der Diskussion! Und wenn ihr euch beschäftigen wollt, denkt daran, zu unserer Mutter Erde, unserem einzig wahren Reichtum, zurückzukehren und ihr all eure Fürsorge zu widmen, damit wir genug schöpfen können, um alle Menschen zu ernähren, anstatt all eure Energie einer unfruchtbaren und unproduktiven Arbeit zu widmen. Kurz gesagt: Steht im Dienst des Lebens mit all seinen Aspekten!

Einige von euch mögen sagen: „Das ist zu viel verlangt von uns! Eine solche Aufgabe ist über uns hinaus!“. Gestattet dem alten Mann, der ich bin, euch ein Geheimnis anzuvertrauen: „So wie es kein ‚kleines‘ Feuer gibt (alles hängt von der Art des angetroffenen Brennstoffs ab), gibt es keine geringe Anstrengung. Jede Anstrengung zählt, und man weiß nie, aus welcher scheinbar kleinen Aktion das Ereignis wird, welches das Gesicht der Dinge verändern wird. Vergesst nicht, dass der König der Savannenbäume, der mächtige und majestätische Affenbrotbaum, einem Samen entspringt, der zunächst nicht größer als eine sehr kleine Kaffeebohne ist.“

Quelle: „Open Letters to Youth – Generation Dialogue Competition“ veranstaltet von der ACCT (Agency for Cultural and Technical Cooperation) für das Jahr „1985, Internationales Jahr der Jugend“

Amadou Hampâté Bâ war ein malischer Schriftsteller und Ethnologe. Zwischen 1960 und 1970 war er für die UNESCO tätig

Veröffentlicht am 8. September 2022 von  Alain Supiot, Professeur émérite au Collège de France

Übersetzung aus dem Französischen: B. Pangerl

Arktische Geschichten von Wasser und Eis

Kunst und Wissenschaft kommen nicht oft zusammen, doch dann entsteht eine ganz eigene Spannung. So an dem Abend „Sagnakvöld – Stories and impressions from the North“, einer deutsch-isländischen Veranstaltung in Bremerhaven, eröffnet von der isländischen Botschafterin María Erla Marelsdóttir.

Kann ich mir das vorstellen? Ich blicke auf die Rednerin. Es ist Montagabend, der 30. Mai in Bremerhaven. Der Vortragssaal im Fischbahnhof ist fensterlos und beleuchtet. Draußen scheint die Sonne.

„Der Ausstoß einer Tonne CO2 bedeutet den Verlust von 3 m² Meereseis.“ Kann ich mir das vorstellen? Nicht so ganz. Ich wende den Blick zur Leinwand, auf der Fotos und Grafiken erscheinen. Die Frau am Rednerpult, Prof. Antje Boetius, ist Leiterin des Alfred-Wegener-Institutes. Sie berichtet von dem Forschungsschiff Polarstern, vom Ökosystem unter dem Eis, von dem Tauchroboter, der Daten und Bilder vom Meeresgrund, dem vulkanisch aktiven Gakkelrückens liefert. Die Fotografin Esther Horvath veranschaulicht weiter die Arbeit des Institutes. Sie hat dreieinhalb Monate lang die internationale MOSAic-Expedition (Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate, 2019/20) auf der Polarstern fotografisch begleitet. Die gebürtige Ungarin erzählt begeistert von der Polarnacht in der Arktis und zeigt in ihren Bildern den rauen Alltag von Forschern und Mannschaft. Klirrende Kälte, Stürme, Dunkelheit. Jede Tätigkeit auf dem Eis muss von einer Eisbärenwache abgesichert werden. Neben der eingefrorenen Polarstern wird Fußball gespielt und ein Matrose eröffnet nach Dienstschluss einen Friseursalon.

Geschichten in Bildern.

Die Abendveranstaltung heißt Sagnakvöld. Das ist Isländisch und heißt Geschichtenabend. Und für Bildergeschichten aus der Arktis steht auch der zweite Fotograf, der an diesem Abend seine Bilder zeigt: Island, Grönland, Sibirien, Kanada – der Isländer Ragnar Axelsson, kurz RAX genannt, hat Menschen, Tiere und Landschaften der arktischen Regionen, die Umbrüche im Leben der Inuit, die Strukturen des Eises, das Schwinden der Gletscher und die verengten Lebensräume der Tierwelt in unglaublich eindrucksvollen Schwarzweißfotos dokumentiert. Vor Kurzem ist seine Ausstellung Where the world is melting in München zu Ende gegangen. In Bremerhaven zeigt RAX im Schnelldurchgang einen Querschnitt aus seiner Arbeit.

(c) Bernhild Vögel

In der Ausstellung hafið – Reflections of the Sea  (zu sehen vom 14.07. bis 17.08.2022 im Schaufenster des Fischbahnhofs) wird eine kurze Bilderfolge von Ragnar Axelssons Grönlandfotos eingeblendet:
Schlittenhunde stehen dabei im Mittelpunkt und ich habe das Bild des vorbeihetzenden Hundes vor Augen, wenn ich an Ragnars eindringliche Worte denke: We are running out of time.

Im Schnitt verursacht jeder Deutsche einen CO2-Ausstoß von ca. 10 Tonnen pro Jahr. Mit dem CO2-Rechner des Umweltbundesamtes lässt sich der ganz persönliche Anteil ausrechnen. Obwohl ich passionierte Fußgängerin bin und kein Auto besitze, schlagen meine Islandflüge ordentlich zu Buche. Ob 30 m² Eisschwund/pro Kopf oder etwas weniger: Wenn wir so weiter konsumieren wie bisher, sind die Pole in 30 Jahren abgetaut. Das finde ich erschreckend vorstellbar. Auch wenn ich dann schon längst tot bin: Die Kinder und Enkel werden die Folgen tragen müssen.

Ragnar Axelsson und Andri Snær Magnason

Am Rednerpult steht jetzt Andri Snær Magnason.  Ich kenne den Schriftsteller seit vielen Jahren. 2010 erhielt er den Kairos-Preis der Alfred-Töpfer-Stiftung in Hamburg und ich berichtete darüber in der IcelandReview:

Wichtigstes Werk des 36-jährigen Autors ist das 2006 erschienene Sachbuch Draumalandið (Traumland) und die gleichnamige Filmdokumentation. Schon vor der isländischen Krise hat der Autor davor gewarnt, die einzigartige isländische Natur dem Energiewahn und Konsumrausch zu opfern.
Am Beispiel des gigantischen Kárahnjúkar-Staudamm-Projektes – gebaut um den Strombedarf einer einzigen Aluminiumschmelze zu befriedigen – stellt Magnason einfache, aber unbequeme Fragen und rechnet vor, wie scheinbar profitable Rechnungen weder für Mensch noch Umwelt aufgehen.“

Andri Snær war mit seiner Familie nach Hamburg gekommen. Die jüngste Tochter, Hulda Filippía, (geb. 2008) war noch nicht auf dem Familienfoto, das ich nach der Preisverleihung machte. Etwa ein Jahrzehnt später, als der Schriftsteller für sein neues Buch recherchierte, stellte er Hulda Filippía ein paar Rechenaufgaben nachzulesen in seinem Buch Wasser und Zeit. Eine Geschichte unserer Zukunft und nachzuhören auf Vimeo.

In Bremerhaven blendet Andri Snær ein Bild ein, auf dem nur 2160? steht. Eine Jahreszahl in ferner Zukunft, einem Jahr, in dem die Urenkeltochter meiner Enkelin eine rüstige Rentnerin sein könnte. Gesetzt den Fall, meine Enkelin wird ihre Urenkelin noch kennen lernen, so wie sie selbst als Kind ihre Urgroßmutter erlebt hat, dann würde sie so Andri Snær einen Generationen-Handschlag über ungefähr 250 Jahre machen können. Kümmern wir uns durch gegenwärtiges Handeln um die Gestaltung der Zukunft das ist seine Botschaft seit Jahrzehnten. Mal sarkastisch, mal augenzwinkernd, mal streng sachlich, ob in Gedichtform (Bónus Supermarktgedichte 1996, dt. 2011), Romanen und Kinderbüchern (Geschichte vom blauen Planeten, 1999, dt. 2007) oder Sachbüchern (Traumland 2006, dt. 2011, Zeit und Wasser, 2019, Zeit und Wasser, 2019, übersetzt von Tina Flecken, 2020).

Einzellige Algen benötigen zum Kalkaufbau CO2 sterben sie ab, binden sie auf dem Meeresgrund das eingelagerte Kohlendioxid. Doch unser hoher CO2-Ausstoß führt zur Erwärmung der Meere und ihrer Versauerung, wodurch der Kalkaufbau gestört wird mit der Folge, dass die Ozeane weniger CO2 binden können. Auch viele kalkbildende Lebewesen sind bedroht, und damit die gesamte Nahrungskette. Andri Snær beschreibt eindringlich diese Gefahren und verwebt sie mit persönlichen Geschichten.

Am meisten hat mich im Buch Wasser und Zeit die Geschichte mit der Kuh beeindruckt, auch wenn sie Andri Snær in Bremerhaven nicht zur Sprache bringt. Die mysteriöse, aus Reif geborene Urkuh Auðhumla der nordischen Mythologie hat sie ihren Ursprung im Himalaja und seinen Gletschern, aus denen milchige Ströme in alle Himmelsrichtungen fließen? Und was, wenn die heilige Kuh verendet und ihre lebensspendende Milch sich in reißende Fluten verwandelt, die katastrophale Überschwemmungen verursachen?  Auðhumla nichts als eine poetische Metapher? Mich würde interessieren, was Svenja dazu sagt. Ich unterhielt mich nach der Veranstaltung mit ihrer Mutter, während die Abiturientin Andri Snærs Buch kaufte und von ihm signieren ließ. Svenja Paulsen ist bereits eine preisgekrönte Forscherin und wird bald auch ein Praktikum beim Alfred-Wegener-Institut beginnen.

Auðhumla nur eine poetische Metapher? Und wenn schon! Auch Steinunn Sigurdardóttir, Islands wohl bekannteste Dichterin, beschwört in ihrem neuen Gedichtband Nachtdämmern (übersetzt von Kristof Magnusson) die bedrohte Schönheit des sterbenden Gletschers Vatnajökull (Wassergletscher) und verwendet die Kuh-Metapher:

sobald die gletscherkuh gebiert, ein eiskalb
aus dem mutterleib presst, da
stirbt ein teil von ihr. Und die nachkommen
strampeln eine weile.
Manche schaffen es aus der sandkiste der
lagune auf das erwachsenenmeer,
die offene see, in ihrem kurzen schönen
leben.

Bernhild Vögel, 15.6.2022

Eigentlich wollte er nur seine Ruhe finden

Source unknown

Er habe eine Einladung zu einem Klassentreffen  erhalten, da seit seinem Schulabschluss 50 Jahre vergangen sind. Das bemerkenswerteste an dieser Einladung war die Rechercheleistung der Organisatoren, welche die Nähnadeln (Klassenkameraden) nach 50 Jahren noch im Heuhaufen fanden, da in alle Winde verstreut.

Gottseidank hätte seine Altersdemenz noch so lange gewartet, dass er sich noch an einen Klassenkameraden dieses Namens erinnern konnte, der damals auch an dem angegebenen Wohnort  wohnhaft war. Was dazu führte, bei der Anfrage auf LinkedIn den Button „Ignorieren“ nicht zu drücken; eine Maßnahme, welche er  dort grundsätzlich bei allen Vernetzungswünschen ergriff, sollte der Anfragende keiner seiner ehemaligen Studenten sein. Massel g’habt.

So ein Klassentreffen nach einem halben Jahrhundert eigne sich vorzüglich dafür, das bisherige Leben zu reflektieren und den Werdegang kritisch zu hinterfragen, so begann er zu erzählen.

Eigentlich hätte ihm persönlich der Hauptschulabschluss genügt. Er hatte keinerlei Ambitionen damals, eine höhere Schule zu besuchen, eher den Wunsch, das Martyrium namens „Schule“ bald verlassen zu dürfen. Wäre da nicht die Forderung seines Vaters gewesen, bei der Eisenbahn in die Lehre zu gehen, da dieser selbst dort arbeitete. Es wäre eine Perspektive gewesen, denn Jungs in seinem Alter wollten damals meistens Lokführer werden, denn dort hätte …

Hätte, hätte, Fahrradkette. Dummerweise wäre er noch lernfähig gewesen, hätte auch sein Erinnerungsvermögen noch nicht eingebüßt und konnte sich somit noch gut daran erinnern, dass alle Löhne, welche er seit seinem 12. Lebensjahr in den Sommerferien durch Ferienarbeit im Büro oder auf den Baustellen im Hochbau und Kanalbau verdiente, von seinem Vater vollständig einkassiert wurden, er noch nicht einmal ein „Taschengeld“ hieraus erhalten habe. Außerdem wäre da noch Theo gewesen, sein Klassenkamerad, der auf die höhere Schule wechselte. Schule ohne Theo? Nicht sein Ding.

Mit der Hilfe seiner Mutter habe er sich bei seinem Vater durchgesetzt und die Hauptschule verlassen. Der Beweggrund wäre demnach keineswegs seine Wissbegier gewesen, sondern die Flucht vor der drohenden Zukunft, auch noch eine geringfügige Ausbildungsvergütung als „Lehrling“ bei seinem Vater abliefern zu müssen.

Dann sei in ihm der Entschluss gereift, anschließend das so genannte Polytechnikum zu durchlaufen und Bauingenieur zu werden. Der primitive Beweggrund: Er zeichnete sehr gerne. Bedauerlicherweise war jedoch diese Idee mit nicht lösbaren Problemen behaftet.

Da er kein Taschengeld erhielt, das jugendliche Alter jedoch bekanntlich mit persönlichen Wünschen geradezu gespickt ist, welche nur via Geld erhältlich, habe er neben dem Schulbesuch diverse Jobs angenommen; Balljunge auf dem Tennisplatz, Obstpflücker im Akkord auf der Obstplantage, Tellerwäscher im Restaurant, Bauarbeiter, Regale füllen bei Metro, etc.  

Gab es da nicht eine Möglichkeit, 1.000 DM im Monat zu verdienen bei freier Kost und Logie, den Führerschein gäbe es auch noch kostenlos obendrauf? Richtig, die Bundeswehr.

Also habe er sich als so genannter „Zeitsoldat“ verpflichtet. Dort gäbe es nach Ablauf der Zeit sogar noch ein nicht zu verachtendes Übergangsgeld obendrauf.

Nichts wie rinn, sei daher sein Entschluss gewesen. Die Ernüchterung habe auch nicht lange auf sich warten lassen. Es müsse einer schon ein großer Patridiot sein, um nicht zu erkennen, dass da Herdentiere abgerichtet werden, welche am Nasenring einer aufgeblasenen Kaste ihrem Untergang entgegengeführt werden sollen.

Da wäre zum Einen der Chef gewesen, der sich bei Kriegsspielen lieber bei der Brigade herumtrieb, da er Major werden wollte, statt sich darum zu kümmern, dass sein Spähtrupp in der Nacht aus dem „Feindesland“ zurückkehren könne und bei der Durchquerung des Minenfelds an der “Frontlinie” nicht von den eigenen Kameraden zusammengeschossen werde, da El Cheffe es mal wieder versäumt hatte, die eigene Truppe zu informieren, dass ein Spähtrupp an dieser Stelle um diese Uhrzeit zurückkomme . Die Unteroffiziere seien daher übereingekommen, dass im „Ernstfall“ El Cheffe der erste Gefallene sein werde, allerdings nicht von der Kugel des Feindes getroffen. Der Spieß, also die Mutter der Kompanie, hätte sich zudem laufend an drastischen Strafmaßnahmen ergötzt, weil das Bett wieder einmal nicht mikrometergenau gefaltet war, und gefiel sich täglich beim Morgenappel in der Rolle des Komödianten: „Mit mir könnt ihr reden, wie mit einem Blöden“. Sollte einer auf die abstruse Idee kommen, dieses Angebot ernst zu nehmen, kam stets dieselbe Antwort: „Halt den Mund, du Eichhörnchen“.

Wen wundere es, dass bei solchen Ereignissen sich der Wunsch nach ausgiebigen Reisen einstelle? Gab es da nicht eine Möglichkeit, vorzeitig vor jenen Typen zu flüchten, welche die Ansicht vertraten, ein Krieg werde dadurch gewonnen, indem der Soldat den kleinen Finger beim militärischen Gruß anlege? Es hätte eine Möglichkeit gegeben: Ein Job beim Militärattaché in einer Botschaft. Nichts wie hin, habe er gedacht, denn das Botschaftspersonal musste alle vier Jahre ausgetauscht werden und wurde danach stets in einem anderen Land eingesetzt. Gibt es eine billiger Möglichkeit, die Welt kennenzulernen?

Sicherlich nicht. Es sei denn, einer würde erst gar nicht in das fremde Land geschickt, da er zwar die besten Noten beim Erlernen der Fremdsprache am Bundessprachenamt erzielte, allerdings in der Fremde kein Auto reparieren könne wie der Kollege, der beim Sprachunterricht mit Pauken und Trompeten durchfiel.

Es hätte allerdings zu Beginn seiner Verpflichtung Experten gegeben, welche den derart Getriebenen ein Talent zur „Systemanalyse“ bescheinigten. Kein Mensch konnte erklären, was damit gemeint ist, allerdings sei seiner Auffassung nach die Natur unbestreitbar ein System, dessen Analyse durchaus interessant sein könne. Also, nichts wie weg, habe er daher beschlossen, so schnell wie möglich und rein ins Studium. Gab es doch das Gebiet der vergleichenden Verhaltensforschung, in welchem auch ausgedehnte Reisen in diverse Kulturen jenseits von Urlauben möglich sind.

Es hätte jedoch in dem Land die Regulierung gegeben, dass ein Studium der Zoologie auf dem zweiten Bildungsweg nicht möglich sei.

War nicht davon zu lesen, dass das Schwarmverhalten der Buntbarsche mit Hilfe von Computerprogrammen analysiert wurde, die Analyse zu dem Ergebnis kam, man brauche nur das Gehirn eines Buntbarsches operativ entfernen, schon wäre er als Führer des Schwarms anerkannt? Ei verbibbsch. Es sei auch davon zu hören gewesen, dass gerade ein neues Studienfach namens „Informatik“ angeboten werde, obschon niemand erklären konnte, was es denn mit dem Begriff „Informatik“ auf sich habe. Vermutlich irgendetwas mit Computer.  

Bekanntlich lebe der Mensch nicht nur von Brot allein, und da ein Informatikstudent neben dem Studium damals mehr im Monat verdienen konnte als ein Professor der Informatik an der Hochschule, war es es um den Geflüchteten geschehen, da seine Sucht nach ausreichendem Einkommen größer gewesen sei als seine Sehnsucht nach vergleichender Verhaltensforschung.

Und da in so genannten wissenschaftsbasierten Informationsgesellschaften allzu gerne Rolle mit Kompetenz verwechselt wird, er weder Kompetenzen noch eine bedeutende Rolle vorweisen kann, sei er zeitlebens ein Ónytjungur geblieben, der bei genauer Betrachtung nur seine Ruhe finden wollte.

Gut möglich, dass seine Erfahrungen ihm wenigstens die Sinne dahingehend geschärft haben könnte, endlich die konsequente Haltung und Geradlinigkeit eines Theo zu erreichen. Als damals Theo auf der Straße ein Aushilfslehrer, der sich im Unterricht nicht gerade mit Ruhm bekleckert hatte, mit seiner Gattin entgegenkam und stolz und freudig erregt ein Gespräch mit seinen Schülern beginnen wollte, hätte Theo abwehrend seine Hand ausgestreckt, gesagt, dass er privat nichts mit ihn zu tun haben wolle und wäre daraufhin schnurstracks seines Wegs weitergezogen. Ehrlich währt am Längsten.

Womit der Werdegang eines Ónytjungur seines Erachtens vermutlich hinreichend beschrieben wäre. Sollte ein Mensch mit einem solchen Lebenslauf öffentlich hausieren gehen? Besser nicht. Hat dieser beschriebene Mensch sein Leben dazu genützt, „Karriere“ zu machen? „Karriere“ sähe anders aus.

Genau genommen sei er ständig auf der Flucht gewesen, um sein „Selbst“ zu beschützen; und wüsste nach 65 Jahren immer noch nicht, was denn dieses sein „Selbst“ eigentlich sei. Es sei halt dumm gelaufen.  

Balu im Cafe Hresso

Wenig ist auf Ísland mehr geächtet als Anwendung von Gewalt.

Das völlige Fehlen von Mimikry verbindet sich auf Ísland – bei Individuen wie auch bei der Gemeinschaft insgesamt – mit absoluter Ächtung jeglicher Gewaltanwendung. Wenig verdeutlicht dies mehr, als eine gewaltsame Auseinandersetzung in der Hitze eines mitternächtlichen Pubs, wenn zu Live-Musik tanzend Individuen angetrunken aneinander geraten. 

Eine junge Frau sitzt allein an einem großen Tisch vor ihrem Bier und erwartet erkennbar, dass sie sich heute nicht allein amüsieren sollte. Sie fällt auf in dem Trubel, da die Nachkommen der Elfen und Tröll eigentlich nie alleine, sondern immer wenigstens zu zweit oder gar in kleinen Gruppen von Pub zu Pub ziehen, andere treffen, und in aller Regelmäßigkeit wiederum in kleinsten Gruppen, nun neu gemischt und zusammengesetzt, bald auch wieder den nächsten Pub ansteuern; in ihrem Verhalten irgendwie an Amöben erinnernd, die auf optimalste Art und Weise futterreiche wie futterarme Terrains durchmessen.

Ein stattlicher Bursche in Lederjacke springt in dieses Treiben, springt mit einem weitausholdenden Schritt in den Pub, zieht – für alle Anwesenden bestens sichtbar – auf der Tanzfläche eine spektakuläre One-Man-Show als Little-Travolta ab. Arme kurbeln, Hüfte schwingt, zum Abschluss der Vorstellung der spektakuläre Kniefall. Um sich dann – der Aufmerksamkeit aller Anwesenden gewiss, obschon kein einziger hinsah, da mit Interessanterem beschäftigt – gemessenen Schrittes an die Theke der Bar zu begeben, und nach der Bestellung eines Drinks sich nach alleinstehenden Seelen weiblichen Geschlechts umzusehen.

Die beiden haben sich gefunden. Bei gemeinsamen Cocktails und erotischem Gereibe an der Bar verrenken sich daraufhin beide sichtlich angeheitert lasziv auf der Tanzfläche in ihr Vergnügen. Der Bursche geht, von Erfolg gesättigt, zurück an die Bar, und gefällt sich dort in angeregten Gesprächen mit den Barmädchen, seine frische Eroberung allein vor sich hin wiegend auf der Tanzfläche zurücklassend.

Das ruft Balu den Bär ins Geschehen. Er trennt sich, ebenfalls allein sitzend, von seinem Glas Wasser; und – einer reifen Birne nicht unähnlich, mit verträumtem Gesichtsausdruck eines Balu – schwebt er nun zur Tanzfläche, mit dem gleichen tänzelnden Unterleib wie eben jener Bär, wie ein Gockel, mit seligem Lächeln im Nirwana der Verzückung sich aufhaltend, um mit der Alleingelassenen, von dieser hoch willkommen, in den siebten Himmel von Fred Astaire zu entschweben.

Solcherlei Verhalten war aber mit dem Selbstverständnis der billigen John-Travolta-Imitation nicht vereinbar, die daraufhin ihr Whiskyglas  nahm, sich von den Barmädchen abwandte, zur Tanzfläche schritt, und den Inhalt des Glases der frischen Eroberung über deren langes Haar schüttete.

Schon strömten zielstrebig aus allen vier Ecken des Pubs die in Schwarz gekleideten Türsteher auf den Burschen zu.

Wer sich nun eine zünftige Schlägerei oder wenigstens erregte Wortgefechte erwartet hatte, kam leider nicht auf seine Kosten. Die Türsteher, alle vier von Beruf Polizisten, welche sich Nächtens über einen zweiten Job im Pub durchs Leben bringen, argumentierten mit den sanftesten, freundlichsten Stimmen und gütigsten Gesichtern solange auf deeskalierende Weise mit dem Burschen, bis dessen erregte und angetrunkene Stimme immer leiser wurde, er sich verständig zeigte, und die Polizisten sich mit einem festen Händedruck von ihm verabschieden konnten. Als beim Hinausgehen die Durchnässte ihm in ihrer Frustration noch einen Fußtritt nachschicken wollte, packte sie einer der Türsteher und trug sie wieder zur Bar zurück, statt sie auch des Pubs zu verweisen.

Wenn nun jemand gehofft hatte, Umstehende würden dieses Spektakel von der unfreiwilligen Dusche bis zur Entfernung des Gewalttäters schaulustig begleiten, wurde dieser herb enttäuscht. Nicht ein einziger würdigte diese Szenerie mit einem Blick. Sie hatten ein interessanteres eigenes Leben, um sich an Ungewöhnlichem Aufregung verschaffen zu müssen, gingen sozusagen, wie Isländer es ausdrücken, in ihrer eigenen Spucke, und wollten darüber hinaus dem begießenden Pudel, da er in ihren Augen sein Gesicht verloren hatte, in aller Freundschaftlichkeit die Peinlichkeit wegen Aufmerksamkeit ersparen.

Ein Vergleich mit Gepflogenheiten in Vergnügungsstätten jener Länder, in welchen Feuerriesen hausen, erübrigt sich.

Es ist nachvollziehbar, dass als Ergebnis eines vom Milch-Absatzkartell des Elfenlands unter den Schülern ausgelobten Poesie-Wettbewerbs folgende Zeilen eines Schülers als Erkenntnis herauskamen, welche die Elfenkinder dann morgens auf den Milchkartons täglich beim Frühstück studieren konnten:

Þá
Mér fannst svo gaman
að kvelja hann
og enginn
þorði að klaga mig


Ég sá hann í dag,
hann er frægur.
Ég öfunda hann,
því hvað er ég?
Ekkert! 1)

Übersetzung:

Damals
war ich so glücklich
ihn zu peinigen
und keiner
wagte mich anzuklagen.

Jetzt
sah ich ihn heute,
er ist berühmt.
Ich beneide ihn;
was bin ich?
Nichts!  

1) Autor unbekannt