Tvö: „Sie sagen, er schuf die Wesen nach seinem Ebenbild.“
Der Troll Eitt lehnte sich im Meer der Ruhe zurück in den Staub, betrachtete diesen blauen Planeten, über dem Horizont im All schwebend, die geschwungenen weißen Fahnen, die ihn bedecken, und sinnierte: „Man wird wohl ein geeignetes Mikroskop benötigen, wollte man nachsehen, wie sich dieses Ebenbild darstelle.“
Tvö: „Dem Absoluten ist das Relative dienlich, der Hybris das angemessene Maß.“
die Beine, die Ohren, die Augen, den Mund, und einsehen musste, es werden nicht mehr, lerne ich Sätze auswendig, Gedichte, Romane, denn dem Feuer, das uns vertreiben wird, wenn über unseren Köpfen das Dach einstürzt, widersteht nur das Paradies in unseren Köpfen.
fæturna, eyrun, augun, muninn, og skildist að þeim fjölgar ekki lenur læri ég setningar utanað kvæði sögur því gegn eldinum sem hrekur okkur burt þegar þakið brotnar yfir höfði okkar stendur aðeins aldingarðurinn í höfði okkar.
Ónytjungur: “Zu einem fernen Stamm, um Spielsachen unter dessen Kindern zu verschenken.”
Tjáningarfrelsi: “Hampelmänner?”
Ónytjungur: “Bei Zusammenbau und anschließender Nutzung wird nachvollziehbar, aus welchem Grund der Fisch stets vom Kopf her zu stinken beginnt, also bei jener antreibenden Kraft, welche die Richtung des Körpers vorgibt.”
Tjáningarfrelsi: “Dies sind keine Fische.”
Ónytjungur: “So ist es. Aber in Demokratien ist das Staatsvolk die antreibende Kraft, also der Kopf, welcher die Richtung des Staatskörpers vorgibt.”
Tjáningarfrelsi: “Und?”
Ónytjungur: “Es demnach so unsinnig wie erfolglos wäre, behaupte einer später, er wäre für den Gestank nicht verantwortlich.”
Tjáningarfrelsi: “Früh übe sich, wer ein Meister werden will. Und weswegen wähltest du zu diesem Zweck Gestalten aus der Vergangenheit?”
Ónytjungur: “Sie sind bestens bekannt und daher geeignet, die Kinder des fernen Stammes an die signifikanten Merkmale eines Nazis zu erinnern. Ziehen sie dann an der Schnur, wird deutlich, wer diese aus der anonymen Masse emporhebt.”
Tjáningarfrelsi: “Und was sind Deiner Auffassung nach die signifikanten Merkmale eines Nazis, damit ich beurteilen kann, ob Du zu Generalisierung befähigt, oder dich nur der Simplifizierung schuldig gemacht?”
Ónytjungur: “Signifikantes Merkmal von Nazis ist deren Eigenschaft, innerhalb eines Nationalstaates einen via Willens- und Absichtserklärung definierten imaginären Stamm zu fördern, zu billigen, oder hinzunehmen, zum Zwecke, die vorhandene Gleichheit aller Staatsbürger aufzuheben, da den nicht zum Stamm gehörenden Staatsbürgern die Rechte des Stammes nicht zustünden, so dass Maßnahmen zu deren Entfernung aus dem entstehenden Stammesgebiet zu ergreifen oder wenigstens hinzunehmen sind, weil für jedermann nachvollziehbar, dass diese Maßnahmen erst die Grundlage erzeuge, und damit erzwungen notwendig sei, um die bestehende Nation erfolgreich auf den definierten Stamm reduzieren zu können, da nur ein Stamm einen nationalen Sozialstaat bilde.”
Tjáningarfrelsi: “Ich lese, dass zum Zwecke einer angemessenen Abbildung bzw. Abgrenzung dafür eigens neue Eigenschaftswörter erzeugt wurden : rechtslastig, rechts, rechtsextrem, rechtsradikal, rechts …”
Ónytjungur: “Diese Methode ist ebenso intelligent wie die Erzeugung neuer Eigenschaftswörter der Form obenextrem, obenradikal, untenextrem, untenradikal, hintenextrem, hintenradikal, vorneextrem, vorneradikal, … “
Tjáningarfrelsi: “Es soll Nebel zerstreuen, studiere einer die Erscheinungen der Sprache an primitiven Arten ihrer Verwendung?”
Ónytjungur: “Selbstzuweisungen wie germanisch, identitär, biodeutsch, autochthon, etc. heben per-se die Gleichheit der Staatsbürger auf, und kreieren einen solchen Stamm. Wo diese signifikanten Merkmale vorliegen, ist bereits die Zuweisung ‘rechts’ ebenso irreführend wie verharmlosend.”
Tjáningarfrelsi: “Verhält es sich nicht so, dass unbestimmte, verschwommene Wortinhalte es jedem Redner ermöglichen, einen Begriff unterschiedlich zu gebrauchen?”
Ónytjungur: “Ein übergeordneter Gattungsbegriff unterscheidet sich stets signifikant von einer Vereinfachung.”
Tjáningarfrelsi: “Handelt es sich bei den Wörtern rechts und links nicht um Umstandswörter des Ortes, und verhält es sich nicht so, dass diese Wörter einen Bezugspunkt erfordern, und dieser Bezugspunkt – so er sich nicht jenseits des Universums befinde – erzwungenermaßen irgendein Punkt im Raum sein müsse? Hinzu kommt, dass diese Umstandswörter des Ortes im Sprachgebrauch nicht einheitlich angewendet werden, denn die Mitteilung, die Zuckerdose liege links vom Kühlschrank, erfüllt stets den damit beabsichtigten Zweck, wird doch die Zuckerdose daraufhin gefunden, hingegen der Hinweis, dass der linke Sitznachbar ein Taschendieb sei, nur dazu führe, dass der Angesprochene sich vergeblich nach rechts absichere, es sei denn, der Hinweisgeber habe mit dem Umstandswort des Ortes den Blickwinkel des Angesprochenen verwendet, und nicht den eigenen.”
Ónytjungur: “Die Zuweisungen rechts und links erfuhren bekanntlich innerhalb der vergangenen 200 Jahre einen Bedeutungswandel. Am Ausgangspunkt als Etikettierung der Eigenschaft monarchistisch (rechts) und dessen Gegensatz republikanisch (links), dann im Zuge der Industrialisierung via Bedeutungswandel auf die Eigenschaft arbeitgeberorientiert (rechts) und dessen Gegensatz arbeitnehmerorientiert (links) angewandt, findet diese Etikettierung bei jenem fernen Stamm nun Verwendung für die Eigenschaft nationalsozialistisch (rechts) und dessen Gegensatz nicht nationalsozialistisch, womit jede Person, welche nicht nationalsozialistisch ist, nur ‘links’ sein kann.”
Tjáningarfrelsi: “Führt dies nicht dazu, dass jeder, welcher sich dem Konzept der Nazis widersetzt, sich über Nacht plötzlich – ei verbibbsch – damit konfrontiert sieht, ‘links’ zu sein?”
Ónytjungur: “Dieser ‘Bedeutungswandel‘, welcher – da abrupt erfolgt und weder auf Bedeutungsverengung noch Bedeutungserweiterung beruhend – gar kein Bedeutungswandel sein kann, ermöglicht letztlich auch das Phänomen, dass das ein und dasselbe Konzept einmal als Riesenkänguruh bezeichnet werden kann, und im gleichen Atemzug – davon völlig unberührt – als Springmaus.”
Tjáningarfrelsi: “Das Konzept eines Riesenkänguruhs unterscheidet sich bekanntlich vom Konzept einer Springmaus.”
Ónytjungur: “Für diesen Vergleich wurde erst gar nicht das gemeinsame Konzept herangezogen, um nicht bestätigen zu müssen, dass es sich dabei um ein und dasselbe Konzept handle.”
Ónytjungur: “Wurde das Ende nicht bereits in den Anfang gesteckt?”
Tjáningarfrelsi: “Dann dürfte es sich bei jenem fernen Stamm um einen solchen handeln, der vom kollektiven Bedürfnis nach beschönigender Ausdrucksweise befallen. Handelt es sich doch bei derartigem Gebrauch weder um eine Spezialisierung, also einer Bedeutungsverengung, noch um eine Bedeutungserweiterung, demnach auch nicht um eine Generalisierung.”
Ónytjungur: “Könnte auch daran liegen, dass bei jenem Stamm den Schülern von den Lehrern nicht auferlegt wurde, jede Woche zuhause ein anderes Buch zu lesen, und daran anschließend sich im Unterricht über das Gelesene auszutauschen, wie an der Schule dort unten im Ort, da darüber die Fähigkeit hervorgerufen, greina (charakterisieren, abgrenzen), alhæfa (verallgemeinern) und einfalda (vereinfachen) richtig zuordnen zu können.”
Tjáningarfrelsi: “Und durch das Verb falda auch noch dazu befähigt werden, die Symptome ‘herumdrucksen’ und ‘nicht recht mit der Sprache herauswollen’ erkennen zu können.”
Ónytjungur: ” Ist dir bei dem Verb einfalda etwas aufgefallen?”
Tjáningarfrelsi: “Es wurde bei dem fernen Stamm durch das Verb vereinfachen eingedeutscht.”
Ónytjungur: “Und?”
Tjáningarfrelsi: “Erinnerte vermutlich doch zu sehr an die Eigenschaft einfältig. Singst du mit mir noch ein Lied zum Abschied?”
Ónytjungur und Tjáningarfrelsi fassten sich bei der Hand, und tanzten einen Reigen :
(49) “Voðir mínar gaf eg velli að tveim trémönnum. Rekkar það þóttust er þeir rift höfðu: Neis er nökkvinn halur.” 1)
(49) “Mein Tuch gab ich auf dem Feld zwei Männern aus Holz. Helden wähnen ihre Kleider zu sein : nackt sind sie schüchtern.”
1) „Hávámál og Völuspa“, Gísli Sigurðsson, Svart á Hvítu, Reykjavik 1986
(30) Að augabragði skala maður annan hafa, þótt til kynnis komi. Margur þá fróður þykist ef hann freginn er at og nái hann þurrfjallur þruma. ¹)
(30) Sich lustig machen über die Hütte eines anderen Menschen obgleich er zu Freunden kommt: Wähnt sich sehr belesen : sofern er nicht befragt wird und ohne Störung sitzen kann.
¹) „Hávámál og Völuspa“, Gísli Sigurðsson, Svart á Hvítu, Reykjavik 1986
Hier sitzen: Sand und Gischt und Muschelwerk die Sonne blutet aus der Wind schreit Möwen an wenn sie ihm allzu dreist den Weg verstellen es ist, als knatterts im Gefieder oder täuscht mich das verletzte Ohr das ich noch mit mir trage das beleidigte Auge das in der Weite immer noch der Menschen Schatten sieht obwohl die Möwen sich nun niederlassen und aus dem Sand, in dem ich sitze dem Muschelwerk, umspült von Gischt der Menschen letzte Spuren picken.
Við sjóinn
Að sitja hér: sandur og særok og skeljaskraut sólinni blæðir út vindurinn gargar á mávana þegar þeir hefta för hans framhleypnir um of það er eins og snarki í fiðrinu eða blekkir mig sært eyrað sem ég burðast enn með móðgað augað sem enn greinir í fjarska skugga mannanna þótt mávarnir stjist nú niður og kroppi síðustu mannasporin úr sandinum þar sem ég sit skeljunum, umleiknum sædrifi.
Ferðalangur: „Wir haben nun ausgiebig genug über diese Wesen uns erfahren, so dass sich die Frage aufdrängt, was denn nun diese Wesen an sich seien, also diese signifikant von anderen Gattungen unterscheide.“
Hugsuður: „Nun, da wäre vielleicht jenes zu nennen, was allgemein als humanes Sozialverhalten verstanden wird“.
Ferðalangur: „Wie steht es dann aber mit jener Elefantenkuh, die sich neben ihre gebärende Artgenossin postiert, um diese in ihrer Wehrlosigkeit gegen etwaige Angriffe von Raubtieren zu verteidigen, da diese selbst hierzu nicht in der Lage?“
Hugsuður: „Schon gut. Da wäre vielleicht jenes zu nennen, was allgemein als Mitleiden verstanden wird“.
Ferðalangur: „Und als was wäre dann die Reaktion jener Pflanze zu bezeichnen, an welcher sich signifikante Reaktionen feststellen ließen, als Resonanz auf die Tatsache, dass ihrer benachbarten Pflanze eine Injektion mit Gift verabreicht wurde, an dessen Wirkung diese gerade verendet?“
Hugsuður: „Zum Teufel mit der Wissenschaft. Bliebe also jenes zu nennen, was allgemein als Seele verstanden wird.“
Ferðalangur: „Und als was wäre dann jenes zu bezeichnen, was einen Pinguin dazu veranlasst, einen nur noch in Teilen vorhandenen verwesten Artgenossen gegen einen Aasfresser zu beschützen, damit dieser ihn nicht weiterhin verspeisen könne, und sich dafür sogar dessen Attacken aussetzt, und nicht davon ablässt?“
Hugsuður: „Meinetwegen. Dann bleibt halt nur noch jenes, was allgemein als Verstand angenommen wird.“
Ferðalangur: „Du meinst jene Fähigkeit, welche die Wesen signifikant von anderen Gattungen unterscheidet?“
Hugsuður: „Ja.“
Ferðalangur: „Da hast Du recht. Die Wesen sind tatsächlich die einzige Gattung, der es ein Herzensbedürfnis ist, seine eigene Gattung über das Betätigen von ein paar Schaltknöpfen auslöschen zu dürfen.“
Hugsuður: „Nun, die Vernunft wird es sein, die sie von diesem Schritt bewahren wird.“
Ferðalangur: „Du meinst jenes, was sie diese Fähigkeit erst entwickeln ließ?“
Hugsuður: „Dann ist es halt die Anhaftung von jenem, was als Bewusstsein bezeichnet wird.“
Das gegen innere Widerstände mitgenommene Mobiltelefon habe ich – was gewiss kein Zufall ist – schon im ersten Hotel vergessen. Der Verlust hat nicht sehr geschmerzt, habe ich doch ein recht kritisches Verhältnis zu dieser „Errungenschaft“ der modernen Kommunikationstechnik: Ich finde, so ein Handy rundet die „emotionalen Ecken“ ab, Abschied und Wiedersehen zum Beispiel werden gar nicht mehr richtig durchlebt, durchlitten und genossen, wenn die kommunikative Nabelschnur niemals unterbrochen ist. Und wie kann man sagen: „Ich bin dann mal weg …“, wenn ständige Erreichbarkeit besteht?
Einen Fotoapparat habe ich von Anfang an gar nicht mitgenommen: Noch nie hatte ich auf einer derartigen Reise eine Kamera dabei, denn ich habe früh bemerkt, dass sie dazu verführt, die Welt ständig als Fotomotiv zu sehen und auf „Sehenswürdigkeiten“ zu reduzieren. Mir aber kam es darauf an, das fremde Land in seiner ganzen Buntheit und Vielfalt bewusst und ohne Ablenkung in mich aufzunehmen. (die besuchten „Sehenswürdigkeiten“ sind schließlich auf Postkarten erhältlich …) Nur so ist es möglich, an jedem Ort, den ich aufgesucht habe, tatsächlich gewesen zu sein. Und das Erlebte mache ich nicht durch Fotos, sondern durch Schreiben erinnerbar.
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Wer allein eine Reise in ein fremdes Land unternimmt, tritt auch eine Reise zu sich selbst an. Unmittelbar und ungefiltert treffen Bilder, Geräusche, Gerüche und Gefühle auf die eigene Seele. Auf diese Weise spiegelt die fremde Umgebung das Ich mit seinen moralischen und kulturellen Wertvorstellungen, bisherigen Erfahrungen, seinen (Vor-)urteilen, Vorlieben und Abneigungen und eröffnet so eine neue Sicht auf die eigene Existenz und auf die umgebende Welt: Die Begegnung mit einer fremden Welt wird zur Selbstbegegnung. Liegt doch das Eigene meist im toten Winkel der Wahrnehmung.
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Der allein Reisende ist weitgehend Herr über Zeit und Raum – welch beglückendes Erlebnis, wo unser Leben heutzutage doch bis ins Detail strukturiert ist von Uhren, Fahrplänen, Ampeln, Fußgängerüberwegen, Vereinbarungen, Verabredungen, Terminen … und nur der Reisende selbst bestimmt die Richtung, in die er sich bewegt, die Neugier weist ihm den Weg, er kann sich treiben lassen von Lust- und Unlustgefühlen. Und es spielt keine Rolle, ob er müde geworden ist, oder über die Energie für weitere Stunden des Umherwanderns verfügt – kann er doch rasten, wann immer und so lange er will!
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Nach eineinhalb Stunden kündigt sich die türkisch-syrische Grenze durch kilometerlange Lastwagenkolonnen an. Das Verhältnis der beiden Länder hat sich in letzter Zeit wesentlich verbessert, der Handel ist nun rege und dementsprechend geht es an der Grenze mit ihren Formalitäten zu. Unser Fahrer wuselt listig rechts und links an den Kolonnen vorbei, schimpft, und wird beschimpft, und schon stehen wir vor dem Abfertigungsgebäude an der Grenze. Alle müssen aussteigen, zur Passkontrolle. Unser Fahrer geht durch den Bus und sammelt alle türkischen Pässe ein. Ich sage: „Ich bin Deutscher, nicht Türke“. Er zwinkert mir zu: „Jetzt bist du auch mal Türke“, nimmt meinen Pass und verschwindet im Laufschritt in der Abfertigungshalle. Ich, etwas besorgt, hinterher. Aber schon ist er in irgendwelchen Büros verschwunden mit seinen türkischen Pässen. Während die anderen ausländischen Mitreisenden die Einreiseformulare ausfüllen, kann ich mich in Ruhe umschauen. Das Gebäude ist ziemlich neu und sehr gepflegt, es herrscht eine ruhige Atmosphäre; natürlich blickt das Konterfei des – wie ich finde – „chaplinesk“ drein schauende Präsidenten, der von nun an allgegenwärtig sein wird in diesem Land, gleich mehrfach von der Wand. Und dann fällt mein Blick auf ein großes Schild: „Verehrte Einreisende“, heißt es da, „sollte sich einer unserer Beamten nicht korrekt verhalten oder in irgendeiner Weise Anlass zu Beschwerde geben, so wenden Sie sich bitte an den zuständigen Aufsichtsbeamten oder rufen Sie die Telefonnummer … an.“ Da fällt mir ein, was mir bei der Einreise am Flughafen in Baltimore (USA) vor einigen Jahren als erstes auffiel: Ein Schild, das in rüdem Ton darauf verwies, dass es ein strafbewehrtes Vergehen sei, bei der Passkontrolle eine Diskussion zu führen („to argue with an immigration officer“). Welch ein Kontrast zwischen dem Land, das angeblich ein Hort der Finsternis sein soll einerseits, und dem gelobten Land der Freien und Gleichen andererseits …
Allepo
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Am Ende der Gasse eine nun lebhafte Straße. Hier kommen viele Taxis an und vor allem auch große Touristenbusse. Ich setze mich auf eine Mauer an der Moschee und betrachte das Treiben. Gerade quellen etwa 40 Touristen aus Deutschland aus einem der Busse; kaum setzen sie den Fuß auf die Straße, reißen die meisten von ihnen die Kamera vors Auge und „schießen“ wie wild um sich. Manche fahren mit ihrem Camcorder einen raschen 360-Grad-Schwenk um die eigene Achse. Die Reiseführerin weist auf drei renovierte Holzhäuser hin (wie ich sie bereits in großer Zahl auf meiner Wanderung heute früh gesehen habe), und schon richten sich alle Kameras auf diese drei Gebäude. Es scheint aber niemand richtig hin zu schauen, vielmehr gilt die ganze Aufmerksamkeit der Entdeckung weiterer Fotomotive. Ich stelle mir vor, dass viele der hier Anwesenden möglicher Weise erst auf dem Sofa daheim, wenn sie die Fotos betrachten, zum ersten Mal all das Schöne zur Kenntnis nehmen, das sie hier vor Ort offenbar nicht richtig in sich aufnehmen (können). Die Reiseführerin erzählt dann offenbar noch vieles mehr, aber es hören nur ein halbes Dutzend wirklich zu, die anderen haben sich abgewendet, fotografieren, gucken sich am Straßenrand angebotene Souvenirs an, trinken aus mitgebrachten Wasserflaschen und wischen sich den Schweiß von der Stirn. Und reden viel. Ich frage mich, warum diese Leute überhaupt eine doch sicherlich nicht billige „Bildungsreise“ gebucht haben. Als ich der Gruppe nachschaue, wie sie sich nun, hinter dem Fähnlein der Reiseführerin versammelt, den Hügel zur Zitadelle hinauf schleppt (die Zufahrt von hier aus ist für Busse gesperrt), denke ich daran, wie gut ich’s doch habe … ich nämlich kann es mir erlauben, hier zu sitzen und zu staunen solange ich mag, um an diesem ersten Tag erst einmal die Stadt als Ganzes mit allen Sinnen in mich auf zu nehmen; Zitadelle und Moschee und all die anderen Sehenswürdigkeiten können warten, sie sind ja schon viele hundert Jahre und auch morgen noch da …
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Es ist – nach vielen unguten Erfahrungen in anderen Ländern – unglaublich, wie unbehelligt ich mich als Tourist in diesem Land bewegen kann: Keinerlei lästige oder aufdringliche „Anmache“, niemand zupft am Ärmel, niemand will einem irgendwelche „echt antike“ Schätze verhökern, einen Teppich verkaufen, die Schwester anbieten, illegal Geld wechseln oder einfach nur „guide“ sein! Welch ein Gegensatz zu Ländern wie Ägypten oder Marokko! Wende ich mich aber Auskunft suchend an einen Passanten, so überschlägt sich der vor lauter Hilfsbereitschaft! Die Verständigung ist zwar in aller Regel schwierig, nur die Wenigsten können Englisch oder Französisch, im Lesen eines Lageplans sind die Syrer auch nicht gerade Weltmeister – aber sie sind herzlich und freundlich und immer sind sie bemüht, dem Fragenden eine Antwort zu geben (die sich bisweilen später als falsch heraus stellt, vermutlich, weil es in den Augen eines Syrers immer noch besser ist, eine unzutreffende Auskunft zu geben, als gar keine.) Als ich in einer überfüllten Bank Geld wechseln möchte und mich hilflos umschaue, komme ich mit einem Mann ins Gespräch, der einmal ein paar Jahre in Dortmund gearbeitet hat und noch recht gut deutsch spricht. Er nimmt sich viel Zeit für mich, lotst mich an langen Warteschlangen vorbei, redet mit dem Schalterbeamten, lässt sich nicht abwimmeln, und ich bekomme meine syrischen Pfund. Herzlich verabschiedet er sich von mir, wie von einem alten Freund. Abends, als ich am Sahat Hatab, dem kleinen Platz in der Nähe meines Hotels einen „sundowner“ genieße, kommt plötzlich dieser Mann aus der Bank vorbei, an der Hand seine zwei kleinen Töchter, etwa im Alter von 8-10 Jahren. Eine von ihnen ist behindert. Der Mann zeigt sich ehrlich erfreut, mich wieder zu sehen. Ich bin es auch. Die beiden Mädchen geben wohlerzogen die Hand, wir wechseln ein paar Worte, dann muss er weiter, seine Frau wartet. Mit einer Umarmung verabschiedet sich der Mann, wie es üblich ist in diesem Land. An diese Begegnung muss ich oft denken: Wie schnell kann sich manchmal ein herzlicher Kontakt zwischen Menschen ergeben, die sich völlig fremd waren! Und es fällt mir das Zitat aus dem „Kleinen Prinzen“ ein, „Man sieht nur gut mit dem Herzen“.
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Der nächste Tag ist ein Sonntag. Früh werde ich geweckt – nein, nicht vom Ruf des Muezzin, sondern vom Glockengeläut der im 19. Jahrhundert gebauten katholischen Kirche hinter dem Hotel! Tja, in Syrien ist möglich, was im Deutschland von Herrn Sarazzin undenkbar ist. Man stelle sich nur einmal vor, einen Steinwurf von Münchens Marienplatz entfernt riefe am Morgen der Muezzin zum Gebet! Beschämt muss ich mir eingestehen, dass für den größten Teil meiner deutschen Mitbürger eine solche Vorstellung wohl unerträglich ist.
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Es ist wohl die „Ganzheit“ menschlichen Lebens, das Neben- und Miteinander von Produktion, Handel, Wohnen, geselliger Zerstreuung, Erholung und religiöser Hingabe. Wohnung, Werkstadt, Geschäft, Teestube, Moschee und Hamam – alles ist in Reichweite, kaum getrennt. Ein Nebeneinander auch der Generationen: Greise, die an der Türschwelle sitzen und Horden spielender Kinder in den Gassen. All das, was wir der Moderne geopfert haben, suchen wir nun sehnsüchtig wieder zu finden in fernen Ländern. Wohnen wir doch in „Schlafstädten“, arbeiten in Industriezonen oder Bürohäusern, kaufen in Einkaufszentren, entspannen uns im Vergnügungsviertel, erholen uns im „Wellness-Centre“, besuchen unsere Alten im Altenheim und verbannen unsere Kinder auf Spielplätze, Kirchen brauchen wir schon lange nicht mehr … Alles ist getrennt, funktional, effizient, raum-, geld-, zeitsparend organisiert. Das menschliche Dasein, es ist in Segmente zerfallen und es wird immer schwerer, die Einzelteile zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen.
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An diesem letzten Abend in Aleppo sitze ich noch einmal in der Nähe meines Hotels vor dem „Café Sissi“ am Sahat Hatab-Platz, der mich mit seinem Flair ein wenig an Montmartre oder auch Alt-Schwabing erinnert. Hier wird mir bewusst, dass Aleppo auch heute noch eine Schnittstelle ist zwischen Tradition und Moderne, zwischen Okzident und Orient, zwischen verschiedenen Kulturen. Fast so wie ich Beirut erlebt habe vor dem Krieg von 1975. Um mich herum sitzen ganz unterschiedliche Menschen: Das syrische Paar mittleren Alters, mit dem ich mich französisch unterhalten kann, er trinkt (in aller Öffentlichkeit!) ein Bier, sie telefoniert mit ihrem Mobiltelefon. Dann sind da zwei junge Frauen, beide tragen Kopftuch – und rauchen, sich lebhaft unterhaltend, Wasserpfeife (auch das in aller Öffentlichkeit)! Und dann ist da eine westlich gekleidete, offenbar gut betuchte Dame, die – einen Hund (!!!) an der Leine – mit einem Begleiter am Nebentisch Platz nimmt. Das ist etwas Unerhörtes, denn für einen Muslim ist der Hund, neben dem Schwein, ein unreines Tier, dessen Nähe der Mensch meidet. Der Hund und seine Herrin erregen denn auch große Aufmerksamkeit, die Buben, die in der Mitte des Platzes Fußball gespielt haben, unterbrechen ihr Spiel und stehen bald belustigt tuschelnd, und gleichzeitig ungläubig staunend in einiger Entfernung um den Tisch, an dem sich Hund und Mensch niedergelassen haben. Auch die Passanten, die vorbei kommen, werfen verstohlene Blicke auf den Hund, der es sich unter dem Stuhl seiner Herrin gemütlich gemacht hat. Da fällt mir das Kapitel „Ich, der Hund“ in Orhan Pamuks Roman „Rot ist mein Name“ ein, das die Existenz der Gattung Hund aus der Sicht eines Hundes in Istanbul mit umwerfender Komik beschrieben hat. Und es fällt mir zum ersten Mal auf, dass ich seit meiner Abreise aus Deutschland vor 14 Tagen nicht einen einzigen Hund zu Gesicht bekommen habe, bis heute Abend.
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Wenn ich die drei Tage, die ich nun in Aleppo verbracht habe, Revue passieren lasse, so bin ich einiger Massen verwirrt. Was ich sah, entspricht so gar nicht dem Klischee vom „bösen Islam“, vom „Ort der Finsternis“, „der Achse des Bösen“, die Syrien doch sein soll – wenn man Psychopathen wie Ronald Reagan, George W. Bush, Herrn Sarrazin, etc. glauben will. Nun könnte man mir entgegnen: Syrien und vor allem Aleppo ist ja nicht „typisch“! Aber warum soll immer nur „typisch“ sein, was dem Vorurteil entspricht? Könnte man nicht auch argumentieren, dass Aleppo „typisch“ ist für die kulturelle und religiöse Toleranz, die eben auch anzutreffen ist in den Ländern des Nahen Ostens?
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Etwa vier Monate, nachdem ich aus dem mir so liebenswert erscheinenden Land zurückgekehrt war, kamen erschreckende Bilder aus Syrien: Bilder von Panzern und Soldaten in den Städten, Frauen und Kinder auf der Flucht, blutüberströmte Demonstranten und brennende Geschäfte … Wie mag es nun den vielen netten Menschen ergehen, die ich auf meiner Reise kennen gelernt hatte? Sind sie alle noch unversehrt?
Der Bürgermeister der Gemeinde trat an das Rednerpult, begrüßte die Gäste der Konferenz, und bedankte sich dafür, dass so viele der Einladung gefolgt waren. War doch die Einladung allgemein an alle Mitglieder der Gemeinde gerichtet, und nicht nur an vorher bestimmte Personen.
Nur die Sitzordnung war vorherbestimmt, denn jeder der großen runden Tische im Konferenzraum der Stadtverwaltung war vor Beginn der Konferenz mit einem Aufsteller versehen worden, der in englischer Sprache die Gäste darauf hinwies, welche Sprache an diesem Tisch gesprochen werde: “Philippinisch”, “Thailändisch”, “Polnisch”, “Englisch”, “Französisch”, “Deutsch”, “Isländisch”, etc. An jedem dieser Tische saß ein Muttersprachler, der – da bereits langjähriges Mitglied der Gemeinde – auch die Landessprache fließend beherrschte, damit ein jeder allen anderen gleichgestellt sei, und nicht durch Sprachbarrieren an der Teilnahme behindert.
Der Bürgermeister der Gemeinde stellte am Beginn seiner Rede zur Begrüßung der Teilnehmer seine Stadt vor. An Einwohnern zähle sie 2.560 Mitbürger, wobei zu erwähnen wäre, dass 30 % der Mitbürger nicht in diesem Land aufgewachsen seien, sondern in 29 anderen Nationen der Welt. Die Konferenz habe das Ziel, von diesen zu erfahren, mit welchen Schwierigkeiten und Hindernissen sie konfrontiert seien, und durch welche Maßnahmen die Gemeinde dem abhelfen könne. Aus diesem Grund werde jedem Teilnehmer eine umfangreiche Liste an Fragen vorgelegt, mit der Möglichkeit, dass ein jeder seine persönliche Antwort als Betroffener abgeben könne. Zu diesem Zweck sei jedem Teilnehmer ein Notizzettel-Block zur Verfügung gestellt worden, damit jeder seine Antwort in seiner Muttersprache darauf niederschreiben könne. An jedem Tisch sitze eine Person, die nicht nur dessen Muttersprache spreche, sondern auch die Landessprache. Diese Person werde die Antwort jedes Teilnehmers am Tisch zu jeder einzelnen Frage sammeln, und am Ende jede einzelne Antwort vortragen, so dass alle Teilnehmer alle Antworten erfahren. Da damit zu rechnen sei, dass die Konferenz deswegen mehrere Stunden in Anspruch nehmen werde, habe man für das leibliche Wohl vorgesorgt, und es sei ein Buffet vor dem Konferenzraum für alle Teilnehmer bereitgestellt.
Unweit des Konferenzraums, in dem Gebäude, in welchem die Universität der Gemeinde untergebracht, befindet sich eine weitere Lehranstalt, die mit der Bezeichnung “Schule für lebenslanges Lernen” wohl am besten beschrieben. Im Rahmen deren Angebots werden didaktisch und methodisch durchdachte Sprachkurse in zweckdienlicher Form bereitgestellt, die aufeinander aufbauen, von professionellen Pädagogen durchgeführt, mit dem Ziel, die Schüler in die Lage zu versetzen, in der Landessprache kommunizieren zu können. Und so ist es keineswegs ungewöhnlich, in einem Klassenzimmer elf Schüler vorzufinden, die aus drei Kontinenten kommend, und sechs verschiedene Muttersprachen sprechend, von einem Mitschüler zum anderen gehen, mit diesem einen freien Dialog zu einer bestimmten Situation in der Landessprache führen, die Lehrerin bei den sich durchwechelnden Zweiergruppen dabei mithört, und bei Bedarf bei einem Schüler dessen praktizierte Aussprache, Wörter und Grammatik korrigiert.
Für die Schüler der Sprachkurse ist von Vorteil, dass in der Gemeinde auch das Büro der Gewerkschaft aufzufinden ist. Verhält es sich doch so, dass jeder Lohnempfänger des Landes per Gesetz automatisch Gewerkschaftsmitglied ist, daher die Unternehmen bei der Lohnabrechnung neben der Steuer auch den Gewerkschaftsbeitrag abführen, der auf 1 % des Bruttolohns festgesetzt. Was dazu führt, dass die Gewerkschaft dem Teilnehmer der Sprachkurse 75 % der Kursgebühren erstattet.
Es ist verständlich, dass ein Außenstehender, dem Kultur bis dahin noch fremd, sich mit der Frage konfrontiert sieht, was denn das Bewirkende sei, die zu solcherart Bewirktem führe. Dabei wäre die Antwort naheliegend, und vom isländischen Staatspräsident Guðni Th. Jóhannesson bereits mit einem einzigen Satz beantwortet: “Wir können die Regierung auswechseln, aber wir können nicht die Wähler auswechseln.”