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Requiem der wissenschaftsbasierten Informationsgesellschaft

Ónytjungur kam nach einer langen beschwerlichen Reise zurück zu seinem alten Freund Aldavinur.

Aldavinur: „Willkommen, alter Freund. Was weißt du neues zu berichten aus der Welt der Wesen?“

Ónytjungur: „Wie du weißt, gab es in der Vergangenheit das Gegensatzpaar Betriebsblindheit und Querdenker.“

Aldavinur: „Ist mir geläufig.“

Ónytjungur: „In der wissenschaftsbasierten Informationsgesellschaft wurden diese eindeutigen Begriffe nun in eine Art Dreisatz umgewandelt.“

Aldavinur: „Dreisatz?“

Ónytjungur: „Ja, was vordem ein Breitmaulfrosch, wird nun  Querdenker genannt …“

Aldavinur: „… aber innerhalb von Anführungszeichen …“

Ónytjungur: „… mag sein, jedoch wer achtet heutzutage noch auf das Kleingedruckte, der gute Ruf ist damit endgültig ruiniert, und was einstmals Betriebsblindheit, ist nun aufgeklärter Mensch genannt.“

Aldavinur: „Will sagen, der ehemals Querdenker genannte Typ ist ausgestorben?“

Ónytjungur: „Nicht vollständig, es soll noch solche geben, welche zu systematischer und umfassender Untersuchung fähig. Dir dürfte ja der Unterschied zwischen Generalist und Spezialist geläufig sein.”

Aldavinur: „Nun, der Spezialist dringt in die Tiefe, weiß daher von immer weniger immer mehr, bis er von nichts alles weiß, hingegen der Überflieger von immer mehr immer weniger weiß, bis er von allem nichts weiß.“

Ónytjungur: „Allerdings ist sich die wissenschaftsbasierte Informationsgesellschaft nunmehr darin einig, ihre eigene Totenmesse abzuhalten.“

Aldavinur: „Sie gedenkt ihrer selbst in einer Missa pro defunctis, einer Messe für die Verstorbenen? Aus welchem Grund, sie lebt doch noch?“

Ónytjungur: „Wie du weißt, gibt es einen Unterschied zwischen der scheinbaren Welt und der realen Welt.“

Aldavinur: „Wie meinen?“

Ónytjungur: „Nun, wenn ich zum Beispiel eine Zigarette schmauche, dann ist die Welt für mich persönlich in Ordnung, mein Körper hingegen sieht das nicht so.“

Aldavinur: „Was willst du mir damit sagen?“

Ónytjungur: „Dass bereits dieses Beispiel zeigt, dass es eine scheinbare Welt und eine reale Welt gibt. Die Frage ist nur, in welcher sich einer aufhalten möchte.“

Aldavinur: „Schön und gut, und in welcher möchte sich die wissenschaftsbasierte Informationsgesellschaft aufhalten?“

Ónytjungur: „In der scheinbaren Welt.“

Aldavinur: „Es scheint also der wissenschaftsbasierten Informationsgesellschaft, dass sie verstorben sei.“

Ónytjungur: „Das genaue Gegenteil ist der Fall, sie sieht sich in ihrer Blütezeit. Demokratie und Wissenschaft hätte sie emporgehoben aus den Niederungen primitiver Völker und ihre Welt mit Wohlstand und Freiheit angefüllt.“

Aldavinur: „Ist dem nicht so?“

Ónytjungur: „Das kommt auf den Blickwinkel an. In der realen Welt wäre einer sofort zu den Schwachsinnigen gezählt werden, würde er solchen groben Unfug behaupten, in der scheinbaren Welt hingegen erfreut er sich dem zustimmenden Nicken abhängiger Kreaturen, was er irrtümlich als Bestätigung auffasst, statt Ausdruck vorhandener Betriebsblindheit.“

Aldavinur: „Soso.“

Ónytjungur: „Den Gazetten – vormals Quelle faktenbasierter Informationen, auf professioneller Recherche beruhend -, war aufgefallen, dass die Leser am liebsten jenen Gockel hören, der am lautesten kräht …“

Aldavinur: „… was er gewöhnlich auf einem Misthaufen tut …“

Ónytjungur: „… und da die Masse durch faktenbasierte Information zu einer mentalen Leistung aufgefordert wird, welche unter dem Begriff Differenzierung zusammengefasst, daher sehr schnell die Lust verliere,  abwinke, und zu mehr zugänglicheren Themen flüchte …“

Aldavinur: „…  die Sensationslust ist dem aufgeklärten Menschen heilig …“

Ónytjungur: „… daher sich die Gazetten genötigt sahen, die nächste Sensation mit so genannten Schlagzeilen rauszuhauen …“

Aldavinur: „… nach dem Credo ‚Mutter zerstückelte ihre Kindern, BILD sprach zuerst mit den Frikadellen‘, bestens bekannt …“

Ónytjungur: „…  statt die Breitmaulfrösche es unter sich aushandeln zu lassen …“

Aldavinur: „… was aber als Unterdrückung von Meinungsfreiheit aufzufassen wäre, wie du weißt …“

Ónytjungur: … was allerdings eine Behauptung, die grober Unfug ist, Es gibt zwar das Recht auf freie Meinungsäußerung, von einer Pflicht, auf diese auch einzugehen, ist mir nichts bekannt, und da die Informatik den Breitmaulfröschen hierzu vor etlichen Jahren extra Foren wie Twitter und Instagram geschaffen hatte, auf denen sie sich ihren geistigen Müll gegenseitig um die Ohren hauen können  …“

Aldavinur: „… wohl eher um die Augen …“

Ónytjungur: „… demnach Foren, welche unter Missachtung der Definition des Adjektivs sozial, was bekanntlich eine gemeinnützige, hilfsbereite und barmherzige Handlung bezeichne, in einer kaum noch zu überbietenden Hybris ausgerechnet Soziale Netzwerke genannt wurden, so dass keinem ein Schaden daraus entstehe, folglich bräuchten die Gazetten gar nicht mehr den Sermon der Breitmaulfrösche zu verbreiten, welcher geboren aus Aufregung und Gegenaufregung.“

Aldavinur: „Womit aber die Behauptung nicht erklärt, die wissenschaftsbasierte Informationsgesellschaft sei sich darin einig, ihre eigene Totenmesse abzuhalten, geschweige denn, was der Unterschied sei zwischen scheinbarer Welt und realer Welt.

Ónytjungur: „Gemach, gemach. Verhält es sich nicht so, dass unabhängig vom Herrschaftssystem, nenne sich dieses nun Monarchie, Diktatur oder Demokratie – wobei unter den Wort Demokratie die Aufforderung zu verstehen ist, es habe sich die Nation dem Mehrheitswillen zu unterwerfen, unabhängig davon, von welchem Wahn die Mehrheit gerade heimgesucht werde -, Menschen zu Abertausenden ermordet werden?     

Aldavinur: „Es ist nicht zu leugnen, dass bei einem Vergleich des Verhältnisses der Summe an Getöteten, die im Namen des Guten und im Namen des Bösen ihr Leben verloren, mehr Sorge angebracht wäre wegen jener, die nicht als Verbrecher angesehen.“

Ónytjungur: „Es wird auch kolportiert, der Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln; demnach der Kulminationspunkt im Übergang von der Dummheit zur Aufregung.“

Aldavinur: „Ist es doch die erstrebenswerte Aussicht selbst, welche die Einsicht verhindert.“

Ónytjungur: „Weiterhin, trifft es zu, dass im Verhältnis zur Gesamtheit der Weltbevölkerung  die überwiegende Mehrheit um das Existenzminimum zu kämpfen hat, während einige Leute, welchen unverständlicherweise auch noch Achtung widerfährt, nicht mehr wissen wohin mit all dem Vermögen, welches sich diese angehäuft haben, sich in das Weltall mit Raketen schießen, sich Jachten zulegen, welche mehr einem Kreuzfahrtschiff gleichen als einer Jacht?“  

Aldavinur: „Sozialneid, willst du hier dem Kommunismus oder Sozialismus die Stange halten?“

Ónytjungur: „Keineswegs. Ist es doch gerade der Ismus, der eine an sich vernünftige Idee ins Unvernünftige überführt. Neige ich zu Glaubenssystemen, handelt es sich nicht dabei um eine Landenge, welche zu beiden Seiten von Wasser begrenzt? Vielmehr wäre eine Kleptokratie zu konstatieren, welche von einer Ochlokratie als notwendiges Übel geduldet. Wären diese Ignoranten im Weltall geblieben, es wäre kein Schaden für die Menschheit entstanden.“

Aldavinur: „Zugegeben, die Analogie ist frappierend, allerdings handelt es sich bei einer Landenge um einen Isthmus und nicht um einen Ismus. In aller Regel handelt es sich bei einem Ismus um eine Idee, einen realen komplexen Sachverhalt durch Simplifizierung dahingehend zu nutzen, um sich selbst via Indoktrination in die Position des Herrschers zu manövrieren.“

Ónytjungur: „Die Welt, das wirksame Geschenk, bietet auch die Möglichkeit, von Menschen vorübergehend als Irrenhaus genutzt zu werden. Um irgendeiner Sache willen.“

Aldavinur: „Schon gut, schon gut. Ich weiß Bescheid. So verwies zum Beispiel die generalisierte Eigenschaft Humanismus über die „Bill of Rights“ in die Reservate, über die Demokratie zur Guillotine, und da nicht ausreichend genug, übers Credo der Atombombe zum Clash of Civilisations.

Ónytjungur: „Dies geschah und geschieht im Augenblick, obschon im Gegensatz zu früher, als es noch keine Autos, Flugzeuge, Zeitungen, Radios, TV-Geräte und Internet gab, so dass Kinder betteln mussten ‚Papa, Papa, nimm mich mit ins Nachbardorf, ich will die Welt sehen‘, heutzutage die wissenschaftsbasierte Informationsgesellschaft bis zum Abwinken mit einer Informationsüberflutung überschwemmt wird, diese sich desinteressiert heilsuchend in Shows und sonstiger geistiger Unterforderung flüchtet.“

Aldavinur: „Nun, der durch Mehrheit bestimmte Zustand einer Republik lässt sich an jenem Geisteszustand messen, der durch tägliche Einschaltquoten dokumentiert. So wird zum Beispiel unter dem Wort Privatfernsehen ein Zeitgeist verstanden, in welchem heuchlerische Zyniker erbärmlichen Charakteren eingebildete Naivlinge zu präsentieren haben, da zum Einen ein ungeheurer Bedarf danach vorhanden, und zum Anderen sonst die Rechte der Aufklärung auf freie Meinungsäußerung, auf Pressefreiheit, und auf bedarfsgerechte Grundversorgung verletzt werden würden.“

Ónytjungur: „Der das Loch in den Schiffsbauch bohrte, verlangt nach der billigsten Schwimmweste.“

Aldavinur: „In einer Welt der Konsequenzen wähnt – in Hoffnung auf Inkonsequenz – der Mensch vorausschauend eine Welt der unbegrenzten Möglichkeiten, rückblickend eine Welt des reinen Zufalls, und nennt diese seine Sichtweise – Evolution.“

Ónytjungur: „Konnte ich dir deutlich machen, wie ich zu der Behauptung komme, die wissenschaftsbasierte Informationsgesellschaft sei sich darin einig, ihre eigene Totenmesse abzuhalten und was der Unterschied sei zwischen scheinbarer Welt und realer Welt?

Aldavinur: „Nun, es erinnert mich an jene Episode, welche über einen Würfel erzählt wird. Ein Tröll starrte ungläubig auf den silbernen, glänzenden Widerstand in seinen Augen, veränderte seinen Standort, erkannte die quadratische, räumliche schwarze Struktur, bewegte sich abermals, bemerkte verblüfft den auftauchenden weißen Kreis im Schnittpunkt der Diagonalen, sinnierte über den nun silbernen oder doch schwarzen Gegenstand mit seinem nun existenten oder doch nicht existenten runden Fleck in der Mitte, reiste von der Umgebung zur Sonne, schlenderte dem am Horizont verschwindenden Lichtstrahl entlang, von Quanten zu Quanten hüpfend, prallte auf die offensichtlich gegenständliche Oberfläche, glitt in bestimmten Winkel auf die Netzhaut, wühlte sich ins spiegelnde Gehirn und erkannte sich erinnernd einen schwarz bemalten Würfel aus Holz. Der Tröll, da nunmal auf Reisen, rammte sich durch dessen Oberfläche, puhlte sich zwängend durch drückende Molekülkugeln, betatschte verinnerlicht zärtlich Atome, setzte sich rapide schrumpfend auf das winzige Elektron, umkreiste den kaum noch sichtbaren, weit entfernten Kern, fühlte seine plötzliche dunkle Einsamkeit in der entleerten Natur, rutschte panisch aus dem Würfel, grabschte kurzentschlossen nach ihm und irritierte den Barkeeper: Würfeln wir einen aus?

Ónytjungur: „Was willst du mir damit sagen?“

Aldavinur: „Da es keine Wege gibt, auf denen sich nichts erfahren ließe, wäre jede Vorschrift über erlaubte und unerlaubte Wege Ausprägung vorhandenen Unwissens, gibt es doch nur nützliche und nutzlose Wege, und wer könnte da wissen, wo doch Nutzen nur Nutzen sein kann, wenn durch ihm kein Schaden bedingt, und auch jeder Weg nur ein einziges Mal begangen wird, da er danach für niemandem mehr begehbar wurde.“

Ónytjungur: „Ich verstehe nur Bahnhof.“

Aldavinur: „Ich will dir damit sagen, dass ich über keinerlei Antworten verfüge. Ich wäre schon froh, wenn es mir gelänge, die richtigen Fragen zu stellen. Magst du mit mir ein Lied singen??

Ónytjungur fasste Aldavinur bei der Hand, beide tanzten einen Reigen auf ihrem Stein und sangen dazu das Lied über die Weisheit:

Wollte sie sich
beschreiben,
sie beschriebe sich
als zwangseingewiesener
Patient,
auf Krücken
durch Korridore
einer Irrenanstalt
humpelnd,
und nicht
als deren
Psychiater.

Wäre ich weise,
oder wenigstens intelligent,
ich befände mich nicht
an jenem Ort
zwischen Traum und Wachsein,
vom Schlaf in den Tag flüchtend,
und vom Tag in den Schlaf.

Der kurze Weg von der Idee zur regelbasierten Unordnung namens Dogma

Venja: „Wilkommen Athugandi, du hast Neues auf deinen Reisen dir erfahren und weißt Neues zu berichten?“

Athugandi (Beobachter): „Nur das Übliche, die Evolution von trial-and-error ist weiter fortgeschritten.“

Venja: „Versuch und Irrtum? Wie kommt’s? Hat die wissenschaftsbasierte Informationsgesellschaft keine Wende herbeigeführt?“

Athugandi: „Das Gegenteil ist zu berichten. Du kennst ja den Grundsatz ‚Garbage in, garbage out‘. Offensichtlich gehört dieser Grundsatz zu den anthropologischen Konstanten.“

Venja: „Es gibt Ausnahmen. Ich finde hier Müll unter zahllosen Steinen. Offensichtlich ist den Touristen es zwar nicht zu beschwerlich, schwere Rucksäcke zu tragen, hingegen zu beschwerlich, leichte Rucksäcke zu tragen, welche nur noch leere Verpackungen enthalten. Sinnlos, die Gründe hierfür verstehen zu lernen.“

Athugandi: „ „Möglicherweise sind diese dazu unfähig, jene Begriffe zu verstehen, zu denen ein Gegensatz gebildet wurde.“

Venja: „Womit sich die Frage stelle, ob es sein kann, dass diese Gattung nicht hat, was ihrer Natur nach gehabt werden könne, also auch dann, wenn es für diese Gattung prinzipiell ausgeschlossen sei, das Fehlende zu haben …“

Athugandi: „… oder etwas zwar theoretisch haben könnte, es jedoch artbedingt oder individuell nicht hat.“

Venja: „Möglich wäre auch, dass sie dies etwa aus irgendeinem Grund nicht hat,  obwohl sie von Natur aus dazu geeignet wäre, das Fehlende in dieser Hinsicht zu haben.“

Athugandi: „Nun ja, dafür gibt es ja das Werden. Ich darf zitieren: Was aber wird, das wird alles durch etwas, aus etwas und zu etwas. Zu etwas meine ich im Sinne jeder Kategorie: Substanz, Quantität, Qualität, Ort. Natürlich heißt dasjenige Geschehen, wo sich ein Entstehen aus der Natur heraus vollzieht. Dabei ist das, woraus etwas wird, das was wir Materie nennen; das, wodurch etwas wird, ist irgend ein von Natur Gegebenes; das, wozu etwas wird, ist ein Mensch, eine Pflanze oder sonst etwas derartiges, was man vorzugsweise als selbständige Wesen bezeichnet.“

Venja: „Sie brechen jetzt- so ist zu hören –  in eine neue Ära der Menschheit auf, in der sie die Möglichkeit haben könnten, sich gegen den Einschlag eines Asteroiden zu schützen.“

Athugandi: „Wird der Einschlag nicht erst in einigen hundert Jahren erwartet? Wer oder was schützt diese Spezies bis dahin vor sich selbst?“

Venja: „Nun, es werden laufend Ideen entwickelt, wie dies gelingen könnte.“

Athugandi: „War bisher nicht zu beobachten, dass Ideen nur dann erfolgreich sind, sollte einer sie dazu verwenden, um daraus Dogmen zu schmieden?“

Venja: „Nun, Dogmen sind das Geglaubte, Gemeinte, Beurteilte und Beschlossene, wie Du weißt. Es blüht der Geist erst auf, wenn er beginnt, anderen etwas vorzuschreiben.“

Athugandi: „Wird mit Idee nicht etwas bezeichnet, was gesehen werde und einen bestimmten Eindruck mache?“

Venja: „Wenn dem so ist, dann hinterlässt offensichtlich nur Eindruck, was beschränktem Geist auch zuträglich. Dies würde allerdings den Fortschritt von der Idee über die Ideologie zum Dogma plausibel erklären, die Notwendigkeit einer regelbasierten Unordnung als anthropologische Konstante.

Athugandi: „Das Problem beginnt bereits bei der verwendeten Sprache.“

Venja: „Wie meinen?“

Athugandi: „Ich darf dich an die hierzulande übliche Vierteilung hugtak, skilgreining, vísimið und iðorð  erinnern? Nun, wie wir beide wissen, folgte anderenorts in der Geschichte der Schlamperei bei der Interpretation von Texten die Schlamperei bei der Übersetzung von Worten und Texten, daraufhin die Begriffserweiterung und Begriffsverengung, anstelle hierfür neue signifikante Ausdrücke zu entwickeln. Obendrein schmuggelten die Interpreten klammheimlich nur zu gerne auch noch eigenen Senf hinzu.“

Venja: „Nun, bereits vor mehr als 2000 Jahren wurde darauf hingewiesen, dass es zu einem Wort mehrere Bedeutungen gäbe, je nachdem, wie das Wort gebraucht werde.“

Athugandi: „Wirklich? Willst du mir etwa sagen, dass Wittgenstein abgeschrieben habe? Ist es nicht Aufgabe der Wissenschaft, Identität, Gleichheit und dergleichen, sowie die Gegensätze davon zu bestimmen?“

Venja: „Nun, es sind dort Dialektik und Sophistik, welche sich um das Reich der Objekte  und Gegenstände drehen. Es ist davon zu lesen, dass bei der einen die Richtung den Unterschied mache, welche das Erkenntnisvermögen einschlage, bei der anderen sei es das Lebensziel, welches sie sich stecke. Die Dialektik sei nur eine bloße Übung der Erkenntniskräfte an den Gegenständen, die Sophistik treibe hingegen die Wissenschaft nur zum Schein und sei daher keine wirkliche Wissenschaft.“

Athugandi: „Es steht auch geschrieben, dass im Falle,  ein Wort habe unendlich viele Bedeutungen, dann es offenbar gar keinen Sinn mehr mache, denn nichts Bestimmtes bedeuten heiße überhaupt nichts bedeuten, und wenn die Wörter nichts bedeuten, so ist damit das Sprechen der Menschen unter einander aufgehoben und in Wahrheit auch das Selbstgespräch. Denn es ist unmöglich zu denken, wenn man nicht etwas Bestimmtes denke. Solle dies aber weiterhin möglich sein, so müsse für die bestimmte Sache auch der entsprechende Ausdruck gesetzt sein. Du kennst ja hinlänglich meine Vorerkrankung, welche dazu führte, laufend Selbstgespräche führen zu müssen.“

Venja: „Ist mir bestens bekannt. Es sei also, wie wir beide zu Anfang gesagt haben: das Wort habe eine bestimmte und zwar eine einheitliche Bedeutung.“

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Athugandi: „Nun, wie wir beide wissen, bietet die Lyrik, das Gedicht, erfreulicherweise ausreichend Medizin für jene, welche an Ideologien und Dogmen zu leiden haben. Verhält es sich doch so, dass die Lyrik völlig untauglich, hieraus Ideologien und Dogmen schmieden zu können. Als Entschädigung dafür eröffnet sie dem Leser den Raum für freie Assoziationen, welche die Erkenntnisfähigkeit  nicht eindämmen, sondern erweitern. Magst Du mit mir ein Lied anstimmen?

Venja fasste Athugandi bei der  Hand und beide tanzten einen Reigen auf ihrem Stein.

(20) Gráðugur halur,
nema geðs viti,
etur sér aldurtrega.
Oft fær hlægis
er með horskum kemur
manni heimskum magi.
1)

(20) Habgierig schlüpfrig
und ohne Acht
erfrisst er sich Ärger,
oft erntet Spott
wer zu anderen kommt
mit eines dummen Menschen Ranzen.

1) „Hávámál og Völuspa“, Gísli Sigurðsson, Svart á Hvítu, Reykjavik 1986