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Was wäre, wenn …

Ob Zufälle die Welt und das Leben jedes Einzelnen zumindest mitregieren, ist Gegenstand der Methode  „Efsaga“ („Was wäre wenn“)  an der Universität Reykjavík, Fakultät für Geschichte und Philosophie:

Die Menschen haben lange gefragt, was in der Geschichte der Menschheit passieren konnte, aber nicht geschah. Was, wenn in der Antike die Perser Griechenland besetzt hätten? Was, wenn der Süden im amerikanischen Bürgerkrieg gesiegt hätte? Was wäre, wenn Hitler im Ersten Weltkrieg gefallen wäre? Es kann sicherlich Spaß machen, Fragen dieser Art zu berücksichtigen, aber haben sie einen gewissen Wert in der Geschichte? Der Vortrag wird zu dem Schluss kommen, dass dies ohne zu zögern zu bejahen ist. Reflexionen darüber, was hätte geschehen können, helfen uns besser zu verstehen, warum es so war; was fast unvermeidlich war, und was reiner Zufall und Laune des Schicksals war.“

Ein Ergebnis aus der Frage „Was wäre, wenn“ hat 2012 die Redaktion der Zeitung Lemurinn präsentiert:

http://lemurinn.is/2012/08/20/hitler-a-thingvollum/

Übersetzung:  „Der Führer gab seiner Bewunderung für den Naturpark Ausdruck und sagte wörtlich: Es ist bemerkenswert, hier an diesem Ort zu stehen, wo die nordische Rasse ihre goldene Ära im Mittelalter hatte. Nun, da Island vom britischen Imperialismus und der jüdischen kapitalistischen Verschwörung befreit worden ist, wird die nordische Kultur in Thingvellir wieder aufstehen.“

Da dieser Besuch nicht stattfand, brauchte der Gröfaz die von den Isländern sicherlich gestellte Frage nicht beantworten, ob er eine Überdosis an Schwefelgasen abbekommen habe, denn eine Überdosis würde zu ernsten Gefäßschäden im Gehirn führen, und was denn das sein solle, die „nordische Rasse“, denn auf Ísland gebe es dergleichen nicht, habe es auch zu keiner Zeit gegeben, zudem wäre den Isländern die Pflicht zu Gehorsam und Unterordnung ein fremder Gedanke, und außerdem sei ihre Kultur zu keiner Zeit gestorben, so dass sie gar nicht auferstehen könne.

Einer der Efsaga-Forscher der Universität Reykjavík hat kürzlich eine andere Rolle übernommen:

http://gudnith.is/efni/um_mig_english

Ein Doktor der Philosophie kann durchaus auch ein sehr subtiler Staatspräsident sein. Erst kürzlich  änderte der isländische Staatspräsident kurzfristig seine Pläne hinsichtlich der Begrüßung syrischer Kriegsflüchtlinge,  und  empfing die Zuflucht suchenden Menschen plötzlich nicht wie ursprünglich geplant am Flughafen, sondern lud sie kurzerhand in seine Residenz ein, kurz nachdem eine weltbekannte Person in der USA ein Einreiseverbot unterschrieb :

http://icelandmonitor.mbl.is/news/politics_and_society/2017/01/30/icelandic_president_invites_syrian_refugees_to_his_/

Nun erzählte er bei einem Vortrag die etwas seltsame Geschichte, er würde Ananas auf Pizzas verbieten. Ein etwas sonderbarer Vorgang bei einem Doktor der Philosophie. Als Ahnungslose  sich daraufhin ereiferten, war das vermutlich angestrebte Ziel der lustigen Bemerkung erreicht, und eröffnete ihm die sicherlich willkommene Gelegenheit, ganz unverdächtig auf die Unterschiede zwischen isländischem und amerikanischem System hinzuweisen:

http://icelandmonitor.mbl.is/news/politics_and_society/2017/02/22/icelandic_president_releases_a_statement_on_pineapp/

Seine vorhersehbare Replik auf Facebook:

„Ich mag Ananas sehr, nur nicht auf der Pizza. Ich kann kein Verbot erlassen, das Leuten verbietet, Ananas auf Pizzas zu setzen. Ich mag keine solchen Kräfte haben. Präsidenten haben nicht die absolute Macht. Ich würde dieses Amt nicht bekleiden wollen, wenn ich ein Gesetz setzen könnte, das verbietet, was ich nicht mag. Ich würde nicht in einem solchen Land leben wollen. Ich empfehle Pizza mit Meeresfrüchten.“

Die amüsante Episode wird wohl als die „Ananas-auf-Pizza-Affäre“ in die isländische Geschichtsschreibung eingehen.

Bushaltestelle

(Bild: Bernhild Vögel)

 

Er gewähre allen Menschen, denen er begegne, einen Vorschuss an Freundlichkeit. Solcher Art, dass sein Tun oder sein  Unterlassen nicht irrtümlich als Ausdruck von Höflichkeit auszulegen sei. Denn er verabscheue Höflichkeit abgrundtief. Sie sei ihm die perfekteste Lüge, die sich als Rücksichtnahme auszugeben versteht.

Allerdings gewähre er den Vorschuss an Freundlichkeit nicht bedingungslos. Sähe er seine Freundlichkeit abgelehnt, oder gar missbraucht, und selbst er könne nicht sagen, nach welchem Maßstab er zu einer solchen Feststellung komme, ersetze er Freundlichkeit durch undurchdringbare Distanz. Bereits ein gemeinsamer Aufenthalt im gleichen Raum werde ihm dann unerträglich, mochte der Raum auch so groß sein, dass nur der Zufall den Weg des Anderen seinen Weg kreuzen könne. Er gäbe sogleich seine ursprüngliche Absicht auf, sobald er einer solchen Person gewahr werde, und verließe umgehend den Ort. Jeder andere Ort gelte ihm dann angenehmer, keine Anstrengung wäre ihm daraufhin anstrengend genug, und jegliches andere Angebot sei ihm willkommener, sei dies auch nur eine Bushaltestelle in einer eisigen Winternacht.

Das Leben sei nichts anderes als der nahtlose Übergang von der unvoreingenommenen Neugier zu begründeter Skepsis, oder in die Liebe, oder in jene Tranquilizer, die aus jedem darüber hinausgehendem wir resultieren, was unweigerlich dann der Fall sei, so dieses abgrenzende wie formalisierte wir weniger als die Gattung benenne. Diese Einstellung mache sowohl frei, wie auch einsam, und er könne beim besten Willen nicht sagen, welches von diesen zwei Ereignissen ihn mehr berühre. So sei seine Antwort gewesen, an einen wohlwollenden Belehrenden, der ihn einmal bei einer Tasse Kaffee zu einer anderen Verhaltensweise ermuntern habe wollen.

Liebe sei, so fuhr er fort, jener durch nichts heilbare Schmerz, der sich unvermittelt einstelle, wenn der andere den Raum verlasse, und der sofort verflöge, sobald der andere den Raum wieder betrete. Im Verlauf der Zeit werde dieser Schmerz dann stets durch ein wohltuendes wie begründetes Vertrauen ersetzt. Er habe sie kennenlernen dürfen, so seine Worte, und auch jenes in ausreichendem Maße, was irrtümlich für Liebe gehalten , da noch keine Möglichkeit eines Vergleichs durch Erleben vorhanden gewesen sei.

Seiner Erfahrung nach sei jedes denkbare wir, so es jenseits von Grenzen angenommen, die durch Zeitspanne einer Begegnung durchlebt, durch gemeinsame Eigenschaften gekennzeichnet, da dieses wir stets jemand erfunden habe, es auf einer schlichten vereinfachenden Formel beruhe, was dazu führe, dass darüber unvermeidbar ein Stammesverhalten verstärkt, und der Intellekt degeneriere.

Und so sei jenes wir, dem er angehöre, nichts weiteres als aneinander gereihte Perlen von Begegnungen, gemeinsam körperlich durchschrittene und geteilte Räume, und deren Dauer. Und jene Zeit, die davon getragen, auf eine weitere Perle hoffen zu können …

Und dann kam mein Bus.

Fragment

Und kraulten sie durch schwankende Körper
die kopfunter auf den Wellen schwappen
an den Badestränden sonniger Urlaubstage,

es fiele ihnen ein, am Abend ja nicht zu vergessen,
bei der Reiseleitung vorzusprechen.

Wegen schriftlicher Bestätigung.
Da erforderlich, um – in der Heimat angekommen –
Anspruch auf Reisepreisminderung anzumelden.

Wäre ja doch etwas übertrieben gewesen,
was da mit „All inclusive“ angeboten.

Gleðilegt nýtt ár – Happy New Year – Bonne année – Gutes Neues Jahr!

Wieder ist ein Jahr rum. Was heißt, dass die Strecke der persönlichen Vergangenheit etwas länger, und die Strecke der persönlichen Zukunft etwas kürzer geworden. Es düfte sich daher vermutlich um einen Irrtum handeln, nehme einer an, dass die Isländer aus diesem Grund heraus auch noch Feuerwerkskörper in großen Mengen in die Luft jagen, neben der traditionellen Sitte, im Chor an Freudenfeuern Lieder über Elfen und dem unsichtbaren Volk zu singen.  Näher läge da die Antwort, dass die Organisation ICE-SAR  auf Ísland das ungeschriebene Monopol auf Feuerwerkskörper besitzt, und mit dem Erlös seine vielfältige Ausrüstung finanziert, um Leben zu retten. Es soll – so war zu hören – nach dem Bankencrash 2008 eine Person auf die Idee gekommen sein, ihren Lebensunterhalt damit zu bestreiten, indem sie konkurrierend zu ICE-SAR Feuerwerkskörper importierte und billiger verkaufte. Und dann diese Geschäftsidee erfolglos aufgegeben habe, da die Isländer lieber die teuren Feuerwerkskörper von ICE-SAR gekauft hätten. Offensichtlich ist das Lebensmotto „Geiz ist geil“ noch nicht bei allen Isländern angekommen.

So ist es nicht verwunderlich, dass zum Jahresende 2016 nicht irgendwelche Leute von RÚV zur Person des Jahres erklärt wurden, die aus irgendwelchen Gründen sich einen Namen gemacht hatten, und daher im abgelaufenen Jahr in die Schlagzeilen gerieten, sondern Namenlose. Also jene Menschen, die in den Gesprächsstoffen der von Schlagzeile zu Schlagzeile, von Aufgeregtheit zu Aufgeregtheit hechelnden wissenschaftsbasierten Informationsgesellschaft nicht für erwähnenswert gehalten, da nicht der Rede wert: das unsichtbare Volk, das in Rettungseinheiten tätig ist. Was die Frage nach sich ziehe, was jenes wohl sein mag, das solche Leute, die im abgelaufenen Jahr in die Schlagzeilen gerieten, mehr ausgezeichnet haben mag als solche, die das Jahr dafür nutzten, um zum Beispiel in der Ferne  1.107 Menschen das Leben zu retten.

Der Unterschied zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit besteht vermutlich darin, dass die Wahrnehmung im günstigsten Fall nur ein Segment der Wirklichkeit. Wie anders ließe sich sonst erklären, dass nun auf Island durch den Massentourismus immer mehr Touristen auch im Winter mit Mietwagen sich aus den komfortablen Bereichen der Städte hinauswagen, und ihrem Selbstverständnis gemäß davon ausgehen, dass gesperrte Straßen nur für Isländer gelten, nicht aber für Touristen. Was dazu führte, dass die ehrenamtlichen Retter von ICE-SAR immer häufiger nicht wegen Notfällen in den Sturm hinausfuhren, sondern um das Leben eines eingebildeten und ignoranten Trottels zu retten. Da es auf Island Sitte ist,  von  geretteten Menschen kein Geld ausgerechnet dafür zu verlangen, da deren Leben gerettet wurde, befreien die Rettungsmannschaften allerdings nur Menschen  aus ihrer misslichen Lage, nicht jedoch deren fahrbaren Untersatz. Was unseres Erachtens eine sehr weise Entscheidung ist.

„Ob es besser wird, wenn es anders wird, weiß ich nicht. Dass es anders werden muss, wenn es besser werden soll, ist gewiss“ (Georg Christoph Lichtenberg)

 

In diesem Sinne wünscht die Redaktion, dass das kommende Jahr 2017 nur solche Ereignisse bescheren möge, die geeignet sind, alle mit Freude zu erfüllen.

„Teil des Seins eines Isländers“

Am 30. November veröffentlichte die New York Times einen Artikel der Autorin Kimiko de Freytas-Tamura über ein isländisches Phänomen: „On an Island Named for Ice, the Poets Are Just Getting Warmed Up„. Übersetzung aus dem Englischen:

Von KIMIKO DE FREYTAS-TAMURA NOV. 30, 2016:

Island, so scheint es, ist voll von versteckten Dichtern.

Wenn sie nicht ihrem Hauptberuf nachgeht, versucht sich eine große Anzahl der 330.000 Einwohner zählenden Insel in Versen, auch Politiker, Geschäftsleute, Pferdezüchter und Wissenschaftler, welche die genetische Isolation der Insel in der Verfolgung medizinischer Durchbrüche studieren. Selbst David Oddsson, der 2002 Ministerpräsident war (als die isländischen Banken privatisiert wurden) und Zentralbankpräsident im Jahr 2008 (als die Banken zusammenbrachen), ist ein ausgebildeter Dichter .

Birgitta Jonsdottir, die Anführerin der anarchistisch ausgerichteten Piratenpartei, die sich bei der gegenwärtigen Parlamentswahl sehr gut bewährt hat, beschreibt sich ziemlich hochfliegend als „Poetikerin“. Ihr erstes veröffentlichtes Gedicht „Schwarze Rosen“ schrieb sie, als sie 14 Jahre alt war, und drehte sich um einen nuklearen Holocaust.

Kari Stefansson, einer der weltweit führenden Genetiker und Gründer von Decode Genetics, erinnerte sich an ein Gedicht, das er 1996 schrieb, wenige Monate nach der Geburt von Dolly, dem geklonten Schaf.

„Ich war ein wenig depressiv“, sagte Herr Stefansson in seinem Büro, das mit seinen Schlitzfenstern und Computerbildschirmen ein wenig wie das Innere eines Raumschiffs aussah. „Einer meiner Wege, damit umzugehen, war, ein kleines Gedicht zu schreiben“, sagte er, bevor er fortfuhr, es zu rezitieren:

Wo finde ich, verloren in der Helligkeit eines sonnigen Tages,
das Glück eines unglücklichen Menschen.

Günstig nur, eine Kopie von sich selbst zu sein.
Alles andere stinkt.

Poesie ist ein nationaler Zeitvertreib, nicht eine besonders „fachliche Tätigkeit“, sagte Sveinn Yngvi Egilsson, Professor für isländische Literatur an der Universität von Island. „Sie ist ein Teil des Seins eines Isländers“, sagte er. „Ja, es ist charmant, nicht wahr?“

In früheren Zeiten waren Verse ein integraler Bestandteil der gesellschaftlichen Zusammenkünfte und wurden oft improvisiert, sagte er. Dichterwettbewerbe fanden statt, wobei die Preise an die witzigsten und schärfsten Verse gingen. Die beliebteste Versform, sagte er, wird „ferskeytla“ genannt, vier gereimte Strophen, die in zwei Teile aufgeteilt werden können.

Isländer sind ungewöhnlich fruchtbare Leser und Schriftsteller, und Gedichtbände neigen dazu, sich gut in Island zu verkaufen. Poesie war den Zahlen der Nationalbibliothek zufolge die drittgrößte Kategorie von Büchern, die im Lande im Jahr 2014 veröffentlicht wurden, nach Fiktion und Kunst. In diesem Jahr wurden weit mehr Poesie-Bücher in Island veröffentlicht, als Bücher über Wirtschaft oder öffentliche Verwaltung. (Es gab anscheinend überhaupt kein Buch über Finanzwirtschaft.)

Das kalte ozeanische Klima und lange Winternächte können auch etwas damit zu tun haben. „Die Leute bekommen gewöhnlich Langeweile, und sie versuchen, sich gegenseitig bei Laune zu halten“, sagte Professor Egilsson. „Einer dieser Wege ist die Poesie.“

Übersetzung: B. Pangerl

Gegen jede Einförmigkeit

troll-imadeWEB-1Wie jedes Jahr wurde am 16. November, dem Geburtstag des Dichters Jónas Hallgrímsson, auf Ísland der Tag der Isländischen Sprache gefeiert, und der Kultusminister vergab den Jónas- Hallgrímsson-Preis für wichtige Beiträge zur isländischen Literatur.

Dieses Jahr wurde der isländischer Dichter und Übersetzer Sigurður Pálsson ausgezeichnet. In seiner Dankesrede sprach Sigurður Pálsson über die Wichtigkeit von Sprachstudien:

Jener, dessen Sprache nur wenige Menschen verstehen, ist in der attraktiven Position,  gezwungen zu werden, eine andere Sprache zu lernen. Der Zwang ist sowohl süß  als auch lohnend. Eine andere Sprache zu lernen bringt die Fähigkeit für eine vielfältigere Einstellung zur Vielfalt der Welt hervor, und arbeitet gegen jede Einförmigkeit. Dies ist von entscheidender Bedeutung. Einförmigkeit ist nicht nur widerwärtig und uninteressant – sie ist gefährlich. Sie kann zu Isolation, Angst und Hass führen. Durch das Lernen fremder Sprachen stellen wir uns in andere Fußstapfen, und können deren tieferen Sinn verstehen. Sprachstudien umfassen nicht nur ein neues Vokabular, sondern auch eine andere Denkweise, eine andere Erinnerungssammlung, eine andere Weltanschauung, einen anderen kulturellen Reichtum.

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(Bild: Bernhild Vögel)

 

 

Lichtbrief an Skuggi

bv1„Mehr Licht!“ soll angeblich Goethe gefordert haben, kurz bevor das Leben aus ihm wich. Stürbe er in heutigen Zeiten, so wäre ihm gut und gerne die gegenteilige Äußerung zuzuschreiben: „Weniger Licht, bitte!“

Du kennst die Schattenseiten am besten, lieber Skuggi*, und benötigst kein Lamento über Lichtverschmutzung und das paradoxe Phänomen, dass menschengemachtes Licht den Sternenhimmel nachhaltig verdunkelt.

Am 28. September 2016 jährte sich zum zehnten Male die Nacht, in der in Reykjavík alle Lichter ausgingen. Der Schriftsteller Andri Snær Magnason hatte die Aktion Lights Off Stars On ins Leben gerufen, denn, so seine Botschaft, Perfect Black reveals Perfect Nature. Und in der Tat, die Stadtbewohner staunten über die Pracht des wiedergewonnenen Sternenhimmels und manch einer erschrak beim Anblick der vom Sternenlicht unterstrichenen Schwärze des Universums.

Die Sterne senden in einer klaren Nacht immerhin so viel Licht aus, dass jeder Mensch, der nicht nachtblind ist, sich ohne Hilfsmittel orientieren kann. Aber nur dem Mond gelingt es, Lichteffekte wie Schattenwurf oder den selten beobachteten Mondbogen zu erzeugen. Wenn du aber ein einfaches Mondlicht-Experiment machen willst, dann gehe in einer Vollmondnacht einen unbeleuchteten Weg so entlang, dass du den noch ziemlich tiefstehenden Mond im Rücken hast. Er wird dir einen wunderbaren Schatten schenken, der dir voraus schreitet. Und du weißt ja: Der Schatten eines Körpers, der von einer Lichtquelle erzeugt wird, ist exakt berechenbar. Aber nun nimm einen Fotoapparat zu Hand und knipse deinen Schatten. Mit Blitzlicht erhältst du ein klares Foto des Weges und seiner näheren Umgebung – nur, was fehlt, ist dein Schatten. Also: Mit mehr Licht lässt sich ein Schatten unsichtbar machen. Was auch bedeuten kann: Zuviel Licht nimmt jedem Wesen seinen Schatten, und ohne Schatten bist du nur ein armer Schlemihl.

Licht ist keine Mangelware in den Städten, von Reykjavík bis Berlin, von Hammerfest bis Kapstadt. Ungeachtet dessen erfreut sich Leuchtkunst im öffentlichen Raum zur Erhöhung des Lichtaufkommens wachsender Beliebtheit. Dass Polarkreisanrainer in den langen Wintern, in denen die Sonne allenfalls kurze Gastspiele im Südosten veranstaltet, allerlei Lichtexzesse begehen, ist sonnenklar und verständlich. Jedoch würde es in Island niemandem einfallen, in den Sommermonaten einen so genannten Lichtparcours auszurichten. Denn dies besorgt die natürliche Solarquelle, auch Sonne genannt, die sich im Nordwesten unterhalb des Horizonts an den Norden heranschleicht, um kurz danach wieder aufzutauchen und die Nacht zum Tage zu machen, und dies ausdauernder, als manch schlafbedürftigem Erdenwesen zuträglich ist. Eines gar seufzte, als sich um Mittsommer die sonnigen Tage gar nicht mehr zu neigen schienen: „Nur einen einzigen stark bewölkten, regnerischen Tag, bitte!“ An wen diese Bitte gerichtet war, ist nicht bekannt.

In der norddeutschen Stadt Braunschweig ist kürzlich ein mehrmonatiger Lichtparcours zu Ende gegangen. Sich an dieser sommerlichen Erleuchtung zu beteiligen, war sicherlich eine besondere Herausforderung an isländische Künstler. Elín Hansdóttir hat sie angenommen. Auf ihrer Internetseite stellt sie ihr künstlerisches Konzept vor:

innen„Elín Hansdóttir ist eine isländische Künstlerin in Berlin. Ihre standortspezifischen Installationen richten sich durch Manipulation von architektonischen Formen, akustischen Elementen und optisches Spiel auf des Betrachters Erfahrung von Baulandschaften  Sie schafft in sich geschlossene Welten, die unter ihren eigenen Regeln zu agieren scheinen, indem sie einen harmlosen Raum in einen verwandelt, der sich über Erwartungen hinwegsetzt und nur zu einem bestimmten Zeitpunkt zu existieren scheint.“ (Original auf Englisch)

Auf dem Grünstreifen, der die Fahrspuren entlang des Braunschweiger Bruchtorwalls teilt, stand den Sommer über Elíns CAST, ein aus Holz errichtetes zweiteiliges Objekt. Während es sich zur bebauten Wallseite geschlossen präsentierte, fehlte den Wänden zur Parkseite hin jedes zweite Brett, so dass lichtdurchlässige Zwischenräume entstanden.

nacht2Alle Installationen des diesjährigen Braunschweiger Lichtparcours sollten auch bei Tage ansehnlich sein, doch CAST war das einzige, das bei Dunkelheit ohne eigene Lichtquelle auskam. Das unbeleuchtete Lichtobjekt reflektierte das vorhandene Licht, am Tage das Sonnenlicht und nachts Scheinwerfer, Straßenlaterne und Mondlicht.

War CAST eine Gussform, in die sich eigene Vorstellungen einbringen und herausschälen lassen?

Auf der Informationsseite des Parcours steht das Wort „kompassförmig“ – eine Vorstellung, die sich möglicherweise bei der Draufsicht auf das Modell bildete, der aber die Richtung fehlte. Denn ob die Magnetnadel eher gen Ost oder West zeigte, ließe sich nicht erkennen.

nacht1Vom östlich gelegenen Lessingplatz kommend, hättest du möglicherweise den Eindruck gehabt, auf den Bug eines Bootes zuzugehen, eines schmalen Schiffes, das in der offenen Mitte zum Einstieg einlädt. Das aber auch mittschiffs auseinandergebrochen sein könnte: Ein zu volles Bootes, das mitten im gleichgültigen Strom der Vorbeieilenden kentert.

Von der Parkseite betrachtet glich CAST eher einem Bollwerk, jedoch verlockte die Lücke in der Palisade zur Erkundung. Und beim Verweilen in einem der beiden Räume hättest du dich abwechselnd geborgen oder vergittert vorkommen können, oder als Späher (ich sehe was, was mich nicht sieht).

Den Formwandlungen entsprechend veränderten sich ständig Licht und Schatten in und um CAST. Und so wäre dies unspektakulärste Lichtparcours-Objekt vielleicht für dich das Interessante gewesen mit seinen Übergängen von Hell zu Dunkel, mit seinen Kontrasten und Schattenfarben, die sich, beeinflusst durch äußere Faktoren wie Tageszeit und Lichtverhältnisse, ständig veränderten und nachts in Bewegung gerieten. Noch Tage nach seinem Abbau, ist ein Abdruck der Form geblieben, umspielt von Licht und Schatten.

* Skuggi, das isländische Wort für Schatten, es ist auch ein Vorname, der allerdings aus der Mode gekommen ist.

Vom Kronkorkenjagen und Tischesammeln

bv1Kultur als Gegenbegriff zu Natur bezeichnet wertungsfrei all das, was sich der Mensch geschaffen hat: Vom Pflug über den Tisch bis hin zum Kulturbeutel und anderen Reiseutensilien.

Der moderne Kulturmensch hat sich weit vom Jäger- und Sammlerdasein entfernt, und solch ehrwürdige Berufe wie Wilderer oder Kräuterhexe sind nahezu ausgestorben. Dennoch hat sich in irgendeinem Hinterstübchen seines Hirns der Trieb erhalten, zu sammeln und zu jagen und manch einen führt diese Leidenschaft rund um den Globus.

Es gibt Menschen, die wollen Abbilder möglichst aller Landstriche des Planeten Erde auf ihren Speichermedien versammeln,  andere jagen quer über die Weltmeere virtuellen Werten nach, und dann gibt es die, die auf ihren Wanderungen und Reisen reale Dinge einsacken, die gemeinhin als wertlos gelten.

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Kronkorken (Dellusafnið in Flateyri)

Die Wortesammlerin, die über den Atlantik fliegt, um in einer Bibliothek ein verstaubtes, der Vergessenheit anheimgefallenes Buch zu lesen, das nur in diesem einen einzigen Exemplar existiert, gilt als verrückt, ebenso jener Kronenjäger, der Fernreisen nur deswegen unternimmt, um seiner Sammlung von Kronkorken ein weiteres Exemplar hinzufügen zu können.

Auch ich habe jüngst einen Kronkorken von einer Reise mitgebracht und ihn auf meinen Kronkorkenuntersetzer gelegt, den ukrainische Freunde vor Jahren gebastelt und mir als Geschenk überreicht hatten. Der Verschluss zierte einst die Vermonter Bierflasche der Marke „The Long Trail“ und zeigt auf rotem Grund die Silhouette eines ausschreitenden Wanderers mit langem Stab. Kein Wunder also, dass mein Auge automatisch nach diesem Motiv in der Kronkorkensammlung des Dellusafnið in Flateyri suchte. Das sogenannte Nonsense-Museum in dem kleinen Fischerort in den isländischen Westfjorden widmet sich verschiedenen Formen der Sammelleidenschaft.

Ist Sammeln wirklich etwas Sinnloses, nur weil das Sammelgut nicht dem Lebensunterhalt dient, sondern andere Gelüste befriedigt, ähnlich jener, die beim Puzzeln im Spiele sind? Sammeln gehört zu den Vorgängen, die sich (in den wohlhabenden Regionen der Erde) von Arbeit in Spiel verwandelt haben, ein Spiel mit meist kleinen Kulturdingen.

Ein Kronkorken hat nahezu keinen materiellen Wert. Einmal entfernt verschließt er die Flasche nicht mehr richtig und wird daher achtlos vermüllt. In der Wegwerfgesellschaft erscheint das Sammeln solch vermeintlich wertloser Gegenstände als unsinnig. Gesellschaftlich anerkannt ist allerdings das Sammeln von Kronkorken, wenn es bedürftigen Institutionen zu Gute kommt. Auch ich sammle Kronkorken für das Till-Eulenspiegel-Museum in Schöppenstedt, dessen Mitarbeiter das säckeweise eingehende 21-zackige Blech auf dem Altmetallmarkt verkaufen – eine durchaus beachtliche Finanzspritze für das kleine Museum.

Der Isländer Ómar Smári ist, so heißt es im Begleittext des Dellusafnið, in der Welt herumgefahren, um Kronkorken zu sammeln. Ich sehe ihn vor mir, wie er vorsichtig den Verschluss von einer Flasche löst, um ihn nicht zu beschädigen. Dann besieht er sich das neu erworbene Prachtstück mit großen Behagen, während er den freigegebenen Inhalt der Flasche zwar trinkt, ihm aber nicht die gleiche Aufmerksamkeit schenkt wie dem neuen Sammlungstück (das freilich ist nur eine Hypothese meinerseits). Die mit dem Erwerb des Kronkorkens verbundene Reise mit all ihren Abenteuern und Mühen macht diesen besonders wertvoll, denn nun ist jeder seiner Zacken mit Erinnerung besetzt und damit unterscheidet er sich grundsätzlich von der seltenen Briefmarke, die sich ein anderer passionierter Sammler bequem per Post ins Haus schicken lässt.

Wer auf einer abgelegenen Insel lebt, hat ohnehin das Bedürfnis zu reisen, und so haben fast alle isländischen Sammler, die dem Dellusafnið ihre Schätze übereignet haben, auf ihren Reisen gesammelt oder wie der Kronensammler zielgerichtete Sammlungsexkursionen unternommen. Doch warum hörten sie auf zu sammeln? Heimischer Platzmangel und die Museumsgründung haben diese schwere Entscheidung sicherlich befördert. Doch da gibt es auch Valgerður, die befand, 300 Sammlungsstücke seien genug. Sie sammelte Affen.

Das Sammeln von Naturgütern ist ein begrenztes Unternehmen. Sicherlich, Sack, Korb oder Beutel, was auch immer zur Aufnahme des Sammlungsgutes verwendet wird, muss gut gefüllt sein, bevor Mensch mit dem Sammeln aufhört und seine Schritte heimwärts wendet. Das Volumen des Behälters setzt dem Sammeltrieb Grenzen, doch wie bestimmt sich die Grenze beim Sammeln von menschengemachten Affennachbildungen?

Das Sammeln von Naturgütern hat immer mit Bewegung zu tun. Ob Ähren oder Beeren – Mensch schreitet vorwärts, der Blick schweift umher, Mensch bückt sich, greift zu, steckt ein, richtet sich wieder auf, geht weiter …

Briefmarken sind selbstreisendes Sammlungsgut und kommen per Post. Der Sammler muss sie nur einem Umschlag entnehmen oder von einem solchen ablösen. Bücher, Süßwaren oder Schuhe brauchen zum Schutz größere Umschläge, und werden meist in Pappschachteln versandt.

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Kugelschreiber (Dellusafnið in Flateyri)

Statt Briefmarken solche Schachteln zu sammeln, ist wegen des hohen Platzbedarfs keine sehr gute Idee. Menschen, die keine Schachtel wegwerfen können, gehören meist zur Spezies der Das-könnte-ich-doch-noch-einmal-brauchen-Sammler, die oft fälschlicherweise als Messies bezeichnet werden. Dabei wollen sie die Schachteln gar nicht sammeln, sondern wieder befüllt an andere potentielle Schachtelfreunde verschicken, doch ach, die versammelten Schachteln haben nie die passende Größe für den vorgesehenen Inhalt.

Auch wenn ich mich gerne über den eigenen oder fremden Schachtelsammeltrieb lustig mache, möchte ich aber folgendes zu bedenken geben: Alltagsgegenstände und Plunder im Überfluss gibt es in anderen Regionen des Planeten Erde nicht; nicht überall herrscht die vermeintliche „Kultur“ des Wegwerfens. Und es gibt Millionen von „Kulturbanausen“, die die Wegwerf-Dinge für einen Hungerlohn herstellen, ohne sie sich jemals leisten zu können. Oder die sich überlebenshalber die Abfälle der Kulturbeutel-Besitzer auf Müllkippen zusammensammeln müssen.

Auf der entlegenen Nordmeerinsel Island, wo die meisten Gebrauchsgüter importiert werden müssen und an hauptstadtfernen Orten nicht so leicht zu beschaffen sind, achten die Menschen die Dinge mehr als auf dem europäischen Festland und sind eher einem pragmatischen Das-könnte-ich-doch-noch-einmal-brauchen-Prinzip verpflichtet. Dies gilt freilich nicht für die passionierten Sammler, denn diese benutzen ihre Sammlungsgegenstände nicht und wollen auch nicht, dass sie benutzt werden. So schaut der Besucher des Dellusafnið je nach Suchtpotential begehrlich auf die hinter Glas verborgenen vollen Schnapsfläschchen oder die prallen Zuckertütchen und -Würfelchen. Manch einer würde gerne ausprobieren, wie sich seine Zigarette an Heuschrecken, Penissen, Fahrrädern, Zangen oder gar Feuerlöschern entzünden ließe, muss sich jedoch mit dem Anblick all dieser verkleideten Feuerspender begnügen.

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Feuerzeuge (Dellusafnið in Flateyri)

Selbst den skurrilsten Dingen, die sich der kulturbeflissene Mensch ersonnen hat, ist eine gewisse Funktionalität nicht abzusprechen. So besitzt auch ein als Delfin verkleidetes Feuerzeug eine Standfläche, damit es auf einem Tisch abgestellt werden kann. Die Funktion des Tisches wiederum besteht hauptsächlich darin, Gegenstände, die ein sitzender Mensch benutzen möchte, aufzunehmen und in einer waagrechten Position zu halten. Nun könnte es ja egal sein, an welchem Tisch der Mensch sein Frühstück verzehrt, aber mitnichten: Neben Form, Farbe, Größe und Erhaltungszustand (alles Faktoren, die zumindest teilweise mit Funktionalität zu tun haben) spielt gänzlich Unfunktionales, nämlich Emotion, eine unerhört große Rolle.

Neulich sagte jemanden über einen alten, abgenutzten Tisch, für den sicherlich niemand mehr einen Pfifferling gegeben hätte: Diesen Tisch kann ich nicht weggeben oder gar wegschmeißen, denn daran habe ich schon als Kind gesessen und gegessen. Unvergessliche Erinnerungen haben sich in die Rillen des Tisches gegraben, das macht ihn für einen einzigen Menschen so unersetzbar wertvoll.

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Zuckerstücke (Dellusafnið in Flateyri)

Erinnert er sich dann aller Tische, die ihm im Laufe eines ganzen Lebens unter sich Zuflucht, an sich Sättigung und auf sich sicheren Stand gewährt haben, kommt sicherlich eine beachtliche Anzahl zustande. Doch ihre Sammlung würde die Dimensionen jeglicher Behausung sprengen und selbst ein geräumiges Museum vor Probleme stellen. So stehen viele einzigartige und unersetzliche Tische einzig in Gedächtnisräumen herum, wo sie unverstaubt vor sich hindämmern können.

Sammlung bedeutet auch: Konzentration auf das Wesentliche. Und ganz versammelt bin ich erst, wenn ich nicht Kulturgüter wie Worte oder Schachteln sammele, sondern das, was die Natur mir pur anbietet. Auch beim Sammeln von Affen oder Kronkorken wäre mir nie aufgefallen, was ich mehr als sechs Jahrzehnte lang falsch angefasst habe. Aber als ich im vergangenen Herbst ein paar Kilometer vom Dellusafnið entfernt an einem Berghang des Önundarfjordes saß, den wiederkäuenden Schafen zusah und Blaubeeren sammelte, bemerkte ich plötzlich, dass meine Linke blutrot vom Beerensaft war. Ich, die vermeintliche Rechtshänderin, pflückte die Beeren mit der linken Hand ab. Als ich versuchte, mit der Rechten zu zupfen, fühlte ich Unbehagen in mir aufsteigen. Und bei weiteren Sammlungen kamen immer mehr Erinnerungen („Nimm den Löffel in die rechte Hand“, „Gib das richtige Händchen“) hoch, die die frühe, konsequente Umerziehung zur Benutzung der „Kultur“hand belegen. Ich werde wohl nicht mehr lernen, mit meiner Naturhand zu schreiben – aber Sammeln, das tu ich fortan bewusst mit Links.

Ziergeschwätz, Ziergewächs, Schafe und Dichter

bv1Als der isländische Schriftsteller Jón Kalman Stefánsson noch ein – wie heißt es so schön – „unbeschriebenes Blatt“ war, arbeitete er in der Fischindustrie, um das Geld für den Druck seines ersten Buches zusammenzubringen. Als er schließlich den Arbeitskollegen stolz den selbstverlegten Gedichtband zeigte – kurze Gedichte, jedes auf seiner eigenen Seite – sprach einer aus, was alle dachten: „Platzverschwendung!“.

Wenn Worte Fische wären, wenn sich ihr Wert danach bemäße, wie viele sich im Netz befinden, wenn es dabei um lang und breit ginge, und wie leicht sie sich zerlegen ließen, trockene Worte, gesalzene, aalglatte und solche, die nur zur Zierde eingefangen werden …

01skrudurDas isländische Wort skrúðmælgi bedeutet „Zier-Geschwätz“. Skrúð (Pracht, Zier, Ornament) findet sich auch im Wort skrúðgarður, Ziergarten. Vor über 100 Jahren schuf der Schulvorsteher von Núpi im Dýrafjörður mit seinen Schülern eine Gartenanlage, die noch heute besteht. Skrúður, wie er sie nannte, war ursprünglich mehr ein Nutzgarten als ein Ziergarten. Hier findet sich heute unter anderem auch ein Kraut, das in den 1920er Jahren als Zierpflanze nach Island kam. Mit seinen feinen weißen Blütendolden und dem üppigen Blattwerk bietet skogarkerfill, der Wiesenkerbel, einen angenehmen Anblick, hat sich aber inzwischen als wahre Landplage erwiesen, denn er verbreitet sich explosionsartig und laugt die Böden aus.

03Kann man den aus den Ziergärten ausgebrochenen Kerbel mit Ziergeschwätz bekämpfen? Jein.

Die Gemeindeverwaltung Ísafjarðarbær kündigte kürzlich ein Experiment zur „ökologischer und nachhaltiger Vernichtung von Kerbel“ an unter Hinweis, dies sei die Formulierung in skrúðmælgi.

Nun ist blumiges Geschwätz allerorts nötig, wenn es gilt, Projektfördermittel zu ergattern oder/und einem Vorhaben einen wissenschaftlichen Anstrich zu verleihen. Jedoch in einer schönen Form der Selbstironie folgte der ziergeschwätzigen Formulierung sogleich die mannamál-Fassung. Mannamál heißt menschliche Sprache und hat als Gegensatz zu skrúðmælgi die BedeutungKlartext“ oder, was hier besser passt: „in unverblümter Sprache“. In dieser entblättert sich das Projekt als vielblättrige Aufgabe für zwei Mutterschafe und ihrer vier Sprösslinge.

Ein paar Worte zum historischen Kontext: Einst bevölkerten unzählige Schafe auch kleine und größere isländische Orte, sicherlich oft zum Verdruss der Bewohner, die Wert auf Zier- und Nutzgärten legten. Schafe sind Feinschmecker und lieben die kulinarische Abwechslung, sie haben sicherlich dafür gesorgt, dass sich Zierpflanzen nicht zu sehr verbreiteten. Jedoch scheint das Wissen, ob Schafe besonders gerne Kerbel fressen und wenn, wie viel, seit Reduzierung der Schafbestände und Einführung der vor jedem Ortseingang in die Straße eingelassenen Tiersperren (Viehgatter bzw. rimlahlið genannt) verlorengegangen zu sein.

06Nun sind die hornlose dunkelwollige Svarta-Hrönn und die hellhaarige gehörnte Ljúfa auf Probe bei der Gemeinde angestellt, um im Dorf Suðureyri, das besonderen Wert auf seine nachhaltig betriebene Fischerei legt, den Kerbel abzuarbeiten und dabei ihre vier Lämmlein anzulernen. Zu diesem Zwecke wurde ein kerbelreiches Areal zwischen zwei Häusern am Ende der Hauptstraße mit doppeltem Elektrozaun umrahmt und ein Informationsschild aufgestellt. Die Mutterschafe machten sich anfänglich entzückt an die Arbeit, während die Lämmlein den herben Kerbelgeschmack sozusagen mit der Muttermilch aufsogen.

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Das abzufressende Areal umfasst auch das Denkmal für den Dichter Magnús Hj. Magnússon, der hier in einer Kate am Abhang über dem Ort seine letzten Lebensjahre verbracht und der Nachwelt unter anderem 4.000 Tagebuchseiten aus fast einem Vierteljahrhundert hinterlassen hat. Er hatte das Häuschen, das er zwei Jahre vor seinem frühen Tod erwarb, Þröm (Ecke, Kante) getauft und daher nannte man ihn Skáldið á Þröm, den Dichter an der Kante.

Die Kindheit des 1873 geborenen Magnús war durch Krankheit und grausame Behandlung geprägt. Er bezog viele Jahre lang Armenunterstützung, verfasste Auftrags-Liebesgedichte, gereimte und ungereimte Nachrufe und Eingaben, arbeitete als Tagelöhner in der Fischverarbeitung und als Wanderlehrer. Die Verführung einer 14-jährigen Schülerin brachte ihn 1911 für ein Jahr ins Gefängnis nach Reykjavík. Vier der sechs Kinder, die er zusammen mit seiner Lebensgefährtin hatte, starben früh.

Die über 23 Jahre geführten täglichen Tagebucheinträge, die immer mit einer kurzen Wetterbeschreibung beginnen, zeigen, wie eng vertraut der Außenseiter als Liebesbote, Nachrufer und Geschichtentransporteur mit den Geschicken seiner Mitmenschen war. Neben Einblicken in das Leben, Denken und Dichten von Magnús bieten die Tagebücher daher auch mannigfache sozialgeschichtliche Informationen.

Magnús schreibt in einem 1914 verfassten Lebensrückblick, vom neunten Lebensjahr bis 1896 habe er das Gefühl gehabt, überall offenbare sich ihm das Antlitz Gottes. „Mir war, als höre ich die ganze Natur einstimmen in den Klang der Offenbarung des Göttlichen und ich sei auch inmitten dieser Stimmenflut. Mir schien mein Ich so klein in diesem himmlischen Glanz.“

Aus diesen knappen Zeilen macht Halldór Laxness eine blumige, wenn nicht gar eine etwas ziergeschwätzige Erweckungsszene, die sich allerdings mit der Aussage, dass sich das Göttliche nicht über Worte offenbart, selbst wieder zurücknimmt:

„Niemand auf dem Hof ahnte, dass der Junge in direkter Verbindung zu Gott stand, und niemand auf dem Hof hätte es verstanden. Alle auf dem Hof hörten weiter das Wort Gottes aus einem Buch. Nur er wusste, dass diese Menschen Gott nie verstehen würden, selbst wenn sie tausend Jahre lang sein Wort hörten, und Gott würde vermutlich kaum darauf verfallen, sie an sein Herz zu nehmen.“

Magnús, dem Ziergeschwätzigkeit wohl ebenso fremd war wie laxnessche Ironie, hat die Passage über den Klang der Offenbarung des Göttlichen in seinen Lebenslauf eingefügt, um die Entstehung seines Vierzeilers zu erklären, der da lautet:

„Þegar sálar augum á
alheims lít ég búa.
Ó, hvað lítill er ég þá
í öllum þessum grúa.“

(Wenn ich mit den Augen der Seele auf des Weltalls Bewohner sehe, oh, wie winzig bin ich da in diesem ganzen Schwarm)

Der Klang der Offenbarung des Göttlichen hat nach Laxness, der den ersten Teil seiner Weltlicht-Tetralogie danach benannt hat, auch den Künstler Ragnar Kjartansson und den Komponisten Kjartan Sveinsson zu einer gleichnamigen Produktion inspiriert, die 2014 an der Volksbühne Berlin Premiere hatte. Wer heute Laxness‘ Weltlicht liest, ahnt nicht, dass der „Ljósvikingur“ tatsächlich existierte. Laxness hat nicht verheimlicht, Magnús zum Vorbild für die Romanfigur Ólafur Kárason genommen zu haben, was für seine Zeitgenossen ja auch offensichtlich war. Doch in welchem Umfang er aus dessen Aufzeichnungen schöpfte, lassen erst die von Sigurður Gylfi Magnússon 1998 unter dem Titel Kraftbirtingarhljómur Guðdómins (Klang der Offenbarung des Göttlichen) veröffentlichten Tagebuchauszüge von Magnús Hj. Magnússon erkennen.

In den Westfjorden entstand 2012 ein Theaterstück über Magnús, und sicherlich ist auch sein Todestag, der sich am 30. Dezember 2016 zum einhundertsten Male jährt, ein Anlass, dort seinem Werk wieder zu begegnen.

05Erst einmal aber sind die verwitterten Stufen hinauf zum Magnús-Denkmal für Menschen gesperrt. Da Schafe gern menschliche Bauten und Straßen nutzen, erkundeten Svarta-Hrönn, Ljúfa und ihre Sprösslinge das steinreiche Monument sofort; inzwischen dient ihnen das Fundament als Terrasse, Aussichtsplattform und Schattenspender.

Doch den Kerbel, so schien es, hatten sie wohl gründlich satt. Bei näherem Hinsehen stellte eine botanisch versierte Person fest, dass die Schafe den herben Wiesenkerbel (skógarkerfill) tatsächlich ganz abgefressen haben, die ähnlich aussehende Süßdolde (spánarkerfill) aber nicht anrühren. Dieses, auch Spanierkerbel genannte Kräutergartengewächs, das nach Anis duftende Blütendolden und üppigeres Blattwerk hat, breitet sich zusammen mit dem Wiesenkerbel in Suðureyri und anderen Orten der Westfjorde ungehindert aus.

Von Süßdolden und anderem süßen Zierzeug lassen sich Ljúfa und Svarta-Hrönn offensichtlich nicht beeindrucken, sind sie es doch gewohnt, ihre Lämmer hinauf in die Berge zu führen, wo die Vegetation karg, aber herbwürzig ist. Magnús, hat bei seinen vielen Gängen von Fjord zu Fjord (damals führten nur Pfade über die Bergpässe) auch botanische Studien betrieben und 43 verschiedene Kräuter gezählt.

Der mit 43 Jahren verstorbene Skáldið á Þröm hätte sich kaum darum geschert, welches Schaf  heutzutage am Hang herumklettert, wenn nur kein Schurke (illmenni) die Blume des Glücks ausrottet (upprætir hamingjublóms). Doch wo wächst sie?

„Wer sie entdeckt“, schreibt Halldór Laxness in der oft zitierten Passage über die schönste Blume, die an einem verborgenen Ort lebt, „für den gibt es keine andere Blume mehr. Den ganzen Tag denkt man an sie. Wenn man schläft, träumt man von ihr. Man stirbt mit ihrem Namen auf den Lippen.“ (Weltlicht IV, Kap. 22).

02Den Dichterpfaden, die ins blumige Reich der Metaphern führen, folgen Ljúfa und Svarta-Hrönn nicht. Sie träumen allenfalls davon, befreit von Elektrozäunen, Ziergeschwätz und -gewächs 43 namenlose Bergkräuter zu verkosten, die schönsten auf den Lippen zergehen zu lassen und genüsslich wiederzukäuen.