Schlagwort-Archive: Sjón und Halldór Baldursson

Landshornaflakkari

troll-imadeWEB-1Der kleine Besucher am Ufer des kleinen Baches hatte sich entschieden: jener ist gut beraten, der Halluzinationen von Wirklichem zu unterscheiden vermag. Es wird daher nur ein Trugbild bleiben, denn immerhin hatte dieser Baum dort sogar den Blitzschlag überlebt, benötigte danach nur noch den verbliebenen Rest an seiner Rinde, um jedes Jahr die grünen Blätter seiner verkohlten Äste mit Nötigem zu versorgen.

Im Alter von zwölf Jahren, als ihn Jahre später seine Eltern bei ihrer Reise auf den Kontinent mitnahmen, was ihn zur deutsch-tschechischen Grenze führte, die damals noch der Eiserne Vorhang genannt, stand er an diesem Bahnhof in Bayrisch Eisenstein, und tastete mit seinen Augen verständnislos immer wieder all diese Dinge ab, welche die Menschen offensichtlich für notwendig hielten. Denn in einem solchen Alter hat man noch davon auszugehen, dass Erwachsene nur jenes tun, was auch unbedingt und zwingend notwendig sei. Ist doch alles, was in diesem Alter von Erwachsenen erfahrbar, Ausdruck vorhandener Notwendigkeiten, welche als solche die Welt des Möglichen, die noch die Welt eines Zwölfjährigen ausmache, in ihre Schranken verwies.

Er konnte sich daher noch an die kleine Erzählung von Sjón und Halldór Baldursson  in “Sagan af húfunni fínu” erinnern:

Ein Junge saß auf einem Stein.
Sie lebten auf dem Land, der Junge und der Stein.
Eine kleine Familie aus der Stadt ging vorbei, Vater und Mutter mit ihrem Sohn im Teenager-Alter.
Sie standen vor dem Jungen auf dem Stein und starren ihn an.
Der Junge war nicht einverstanden, dass man ihn anstarrte, hatte man ihm doch gesagt, dass Anstarren unhöflich sei, und so blickte er auf seine Beine.
“Ich durfte nie auf einem Stein sitzen”, sagte der Vater.
“Steine verschmutzen die Hosen der Menschen, und daher ist es nicht gut, auf ihnen zu sitzen,” sagte die Mutter.
“Er wird doppelt erleichtert auf dem Stein sitzen”, sagte der Sohn, der ein gebildeter Teenager war.

Er blickte fragend zu dem Jungen auf dem Stein.
“Nicht wahr?”

Nun stand dieser Schüler vor dieser breiten kahlen Schneise, welche den Wald in zwei Teile zerschnitt, vor den hohen Gitterzäunen, die den Zutritt zu einem breiten Streifen verhindern sollten, wobei nicht ersichtlich war, welchem Zweck dieses dienen solle. War doch auf diesem breiten Streifen nichts Schützenswertes vorhanden, kein Strauch, kein Baum, und auch keine Wiese, die in deutschen Städten Rasen genannt, und der so schützenswert war, dass in den Städten vor jedem Hausausgang ein Schild am Rand dieser Rasenflächen angebracht werden musste, auf dem zu lesen war: „Betreten des Rasens verboten. Eltern haften für ihre Kinder“.

Die Sicht auf Dinge, die sich einem zeigen, verändert sich im Laufe der Jahre. So entpuppt sich zum Beispiel ein reißender Fluss von damals, in welchen einer einst unter Ansammlung aller Kräfte große Steine geworfen hatte, um auf diesen das andere Ufer erreichen zu können, im erwachsenen Alter als kleiner, schmaler Bach, der nur einen Meter breit, dessen Wasser friedlich vor sich hin murmelt, und dessen Wasserstand nicht einmal bis zu den Knöcheln reicht.

Der zwölfjährige Junge stand am Bahnhof in Bayrisch Eisenstein, und tastete daher mit seinen Augen verständnislos immer wieder diese hohen Drahtzäune ab. Diese breite kahle Schneise, welche den Wald in zwei Teile zerschnitt, und fragte sich, wie wohl einem Tier dort draußen im Wald zumute sei, welches unvermittelt plötzlich diesen Zaun entdeckt, der ihm den Weg verwehrt, zu jenen Futterplätzen dort drüben, die in der Vergangenheit immer aufgesucht werden konnten. Wobei unwichtig war, ob das Tier nun auf dieser Seite, oder auf jener Seite vor dem Zaun stand, da sich nur in ein und derselben Situation befindend.

Erst später, im Erwachsenenalter, fand der Junge von damals endlich die Antwort auf die Frage, wozu die Erwachsenen Notwendigkeiten aufstellen, welche als solche die Welt des Möglichen in ihre Schranken weisen. Die Antwort fand sich in einem Satz, den der Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt seinem Romulus in den Mund legte: der Staat bediene sich des Wortes Vaterland immer dann, wenn er auf Massenmord aus ist.

So wurde der Junge zu jenem, was auf Island ein Landshornaflakkari genannt. Ein Landeseckenlandstreicher, von dem sich die Isländer erzählen, er ginge in der eigenen Spucke.

Ein Pendler zwischen den Kulturen, ein Reisender, der einst in jedem isländischen Haus auch ein höchst willkommener Gast war, um mit ihm Gesinnung auszutauschen. Denn der Unterschied zwischen Reisen und Verreisen besteht darin, dass das eine synonym zu erfahren, und das andere synonym zu Zeitvertreib, was nicht dasselbe ist. Beides bietet Erholung, das eine vom Irrtum, und vom anderen werden sicher Andere zu erzählen wissen. Sind doch nicht alle Sichten auf Dinge, die sich einem im Verlauf des Lebens zeigten, auch solche, die sich im Lauf der Jahre auch veränderten.

Und so kennt der Besucher von damals bis heute nicht die Antwort auf die Frage, welcher Nationalität er denn angehöre.

Unbenannt-20War er es doch, der damals diese Steine in diesen reißenden Fluss warf, da auf der gegenüberliegenden Seite sich sein Zuhause befand: ein riesiger Baum, den einmal ein Blitz getroffen hatte. Der Baumstamm war hohl, seine Innenseite schwarz und verkohlt, und unten war auf einer Seite ein breiter Spalt, ein Einlass, so dass es möglich war, in diesen Baumstamm hineinzugehen. Blickte der Fünfjährige dann, im Baumstamm stehend, nach oben, so sah er all die schwarzen Äste der Baumkrone, die wieder ein grünes Blätterkleid trugen. Dieser Baum war sein bester Freund, und auf die lächerliche Frage, welcher Nationalität er denn sei, würde er – der Wahrheit die Ehre gebend – antworten: dieselbe wie dieser Baum.

Übersetzung: B. Pangerl

isLandshornaflakkari