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Die Macht der Vorstellungskraft, um begrenzende Erzählungen zu überwinden

Titel: Nachruf auf die Leere
Autor: Yamen Hussein
ELIF Verlag
ISBN: 978-3-946989-36-3
18 €, 120 Seiten

​Vorab sei angemerkt, dass Hinweise darauf, wodurch dem Dichter, Mathematiker und Journalisten Yamen Hussein der Ausbruch aus der Leere gelang, dem Haptiker vorbehalten sind. Der Gedichtband kann beim ELIF-Verlag problemlos online bestellt werden. Dieser Versuch einer Betrachtung beschäftigt sich nur mit den Hinweisen des Dichters auf die Ursachen der Leere.

Im März 2021 publizierte der ELIF-Verlag mit dem Gedichtband “Nachruf auf die Leere” Gedichte von Yamen Hussein, ins Deutsche übersetzt von Leila Chammaa und Jessica Siepelmeyer. Bereits der Titel des Gedichtbands lässt aufhorchen: Was wird hier unter dem Begriff “Leere” verstanden? Das Nichts, ein Begriff, zu welchem die Philosophen viele Bedeutungsaspekte im Lauf der Jahrhunderte diskutieren? Oder das Gefühl einer Person, nichts zu haben, was sie erfülle? Bedeutet “Nachruf” nicht einen Text über einen Verstorbenen?  Vermutlich beantwortet das Gedicht “Geburtsurkunde” die offene Frage:

Geburtsurkunde

Natürlich erinnere ich mich nicht an meine Hebamme, die meinen Kopf aus einem Dunkel ins nächste gezogen hatte.

Es wäre in Missverständnis und ein grober Irrtum, die Aussage des Autors über das Dunkel nach seiner Geburt dahingehend auszulegen, seine Gedichte wären Ergebnisse  eines Flüchtlings, der vor einem autoritären Regime geflüchtet sei. Dies würde seine Selbstaussage als Lüge hinstellen, der zufolge Poesie für ihn sehr wichtig für die Entwicklung des Selbst ist. Er studierte Mathematik und schrieb Gedichte, welche nur für ihn persönlich waren, zum einen durch die Tür der Mathematik, weil er die formelhafte Natur der Mathematik genieße, zum anderen durch die Tür des Journalismus, wobei er an das „Wer, was, wo“ verschiedener Erfahrungen in seinem Leben dachte. Zudem betrachtet er die Einstufung als „Flüchtling“ als problematisch und verweist zu Recht darauf, dass auch Thomas Mann ein Flüchtling war, sich allerdings niemand sich an ihn als „deutscher Schriftsteller“ oder „Flüchtlingsschriftsteller“ erinnert.

Yamen Hussein bekannte in einem Interview, dass er für kein beabsichtigtes Publikum schreibe, sondern ehrlich gesagt nur sich selbst schreibe. Wenn es sich nun nach der Selbstaussage des Verfassers der Gedichte so verhält, dass seine Gedichte nicht auf eine Außenwirkung zielten, sondern für ihn selbst persönlich gedacht sind, da solches wichtig für die Entwicklung des Selbst – und die Lektüre der Gedichte erlaubt nicht den geringsten Zweifel am Wahrheitsgehalt dieser Selbstaussage -,  läge dann nicht die Schlussfolgerung nahe, dass das Dunkel die Ursache der Leere sei und die Poesie in Form eines Nachrufs dieses Dunkel nach und nach ans Licht bringe, mit anderen Worten: Ein Weg, um Hoffnung zu stiften, da – wie der Autor darlegt – Poesie uns in eine andere Welt versetze, uns die Kraft zu lieben, zu fühlen und zu lachen gebe? Da laut Albert Einstein Mathematik auf ihre Art die Poesie logischer Gedanken ist und der Autor seine Gedichte auch durch die Tür der Mathematik schrieb, und da der Autor dabei nicht auf Außenwirkung aus war, besteht die Hoffnung, etwas über jene Transformationen zu erfahren, welche im Stillen stattfinden, über die Macht der Vorstellungskraft, begrenzende Erzählungen zu überwinden.

Graciela Selaimen schrieb in ihrem Aufsatz “Beyond Impact and Scale: Affection as Living Transformation”: „Wir leben in der Illusion, Erfolg werde in Likes, Shares und Follower-Zahlen gemessen. Dieselbe Besessenheit von „Wirkung“ führt auf individueller Ebene zu Versagensängsten. Es ist die Logik „je sichtbarer, desto besser“ – selbst wenn Sichtbarkeit nicht unbedingt Verbindung, Tiefe oder echte Transformation bedeutet. Likes sagen nichts über Zuhören aus. Engagement ist nicht unbedingt Beziehung. Und Viralität ist oft nur Lärm. Und wenn wir zulassen, dass diese Maßstäbe bestimmen, was wertvoll ist, laufen wir Gefahr, das Wesentliche zu verlieren: Sorgfalt, Zeit, gegenseitige Einbindung – die Art von Transformation, die im Stillen, in den unterirdischen Netzwerken lebender Prozesse stattfindet.“

Jedoch, was ist unter dem Terminus „begrenzende Erzählungen“ zu verstehen?

Tauschhandel

Oh Land der aufgereihten Leichen,
ich gebe deine Ethnien, Nationen, Fahnen, Religionen her
für einen Schuh, den ich trage auf einem endlosen Weg
ohne Blick zurück.

Marina Babl schrieb in ihrem Beitrag zu dem Gedichtband „Siebzehn Minuten“ über die Gedichte von Yamen Hussein: „Innerhalb von 17 Minuten könnte man außerdem, wenn man es darauf anlegt und sich beeilt, den schmalen  Gedichtband von Yamen Hussein einmal von vorne bis hinten komplett durchlesen. Oder auch nur ein Gedicht daraus und sich das Gelesene im Kopf zergehen lassen, die Worte sacken lassen, nachdenken. Denn das Ungesagte wiegt in diesem Band schwerer als die wenigen, wohlplatzierten schwarzen Buchstaben.

Da Yamen Hussein in einem Interview darauf hinwies, dass er Gedichte auch durch die Tür des Journalismus schreibe und dabei an das „Wer, was, wo“ denke, ist davon auszugehen, dass er nicht nur zu präzisen Aussagen befähigt ist, sondern darüber hinaus auch in der Lage ist, die Frage „Was ist X“ zu beantworten, also die Essenz von „X“  zu erklären. Sind es doch oft Ausdrücke des allgemeinen Gebrauchs, die zur allgemeinen Währung der Kommunikation geworden sind, über deren Definition oder Erklärung sich die Menschen keine Gedanken machen, obschon diese nur verbale Statthalter sind und diese dazu verwendet werden, um zu suggerieren, einer wisse wovon er redet und spricht, als hätte er bereits alles begriffen. So erscheint zum Beispiel der Begriff „Nation“ im Verbund mit Aussagen über so unterschiedliche Begriffe wie Souveränität, Territorium, Grenze, Regierung, etc. Der Begriffsname signalisiert jedoch, dass hier noch Fragen offen sind, demnach Vorsicht und Verantwortung geboten ist, und Misstrauen angebracht ist gegenüber jene, welche zu verstehen vorgeben, was tatsächlich noch nicht begriffen worden ist.

Es ist davon zu lesen, dass Begriff, Ausdruck, Bedeutung und Definition in engem Zusammenhang stünden, da sie alle Aspekte der sprachlichen Repräsentation und Erfassung von Konzepten betreffen. Ein Begriff sei eine gedankliche Einheit, die durch einen Ausdruck, also eine sprachliche Form (Wort oder Wortgruppe), repräsentiert werde, die Bedeutung eines Ausdrucks sei jenes, was er bezeichne, also die Vorstellung oder das Konzept, das er hervorrufe, und eine Definition sei eine präzise Erklärung der Bedeutung eines Begriffs, die seine wesentlichen Merkmale herausstelle. Wenn dem so ist, liegt folgende Schlussfolgerung nahe:

Die Annahme, der Dichter beziehe sich mit dem Satz „Oh Land der aufgereihten Leichen“ nur auf sein Herkunftsland und nicht auf alle Länder, ist daher ein Irrtum, was an dem Plural des Wortes „Nation“ unschwer zu erkennen ist. Es gibt keinen allgemein anerkannten Begriff der Nation, was auf dessen ausschließlich legitimierender Aufgabe zurückzuführen ist, um die Gegenwart zu rechtfertigen. Handelt es sich doch bei dem Begriff „Nation“ nicht um etwas von Natur aus Gegebenes, sondern um etwas geschichtlich Gewordenes. Es muss einer schon jeden Geschichtsunterricht verschlafen haben, um nicht zu wissen, dass jene Gebilde, welche sich „Nation“ nennen, in der Regel aus drei Ereignissen heraus entstanden sind: Entweder haben sich abhängige Kreaturen einer Person unterworfen, welche ihre Familienangelegenheiten oder persönlichen Ansprüche dazu nutzten, ihre auf solche Art und Weise entstandenen „Untertanen“ auszusenden, damit sich diese in sogenannten Schlachten gegenseitig ermorden, oder eine Horde an Dieben und Mörder massakrierten die Bevölkerung eines Landes in einem Genozid, pferchten die Überlebenden in Reservate und stahlen deren Land. Da dies noch nicht genug, setzten sich bezüglich der noch übrig gebliebenen Länder Personen zusammen, zeichneten auf Landkarten Linien mit einem Bleistift bei Ländern, welche nicht die eigenen waren, nannten diese Linien „Grenze“ und teilten die auf solche Art und Weise entstandenen Gebilde unter sich auf.

Zudem fällt auf, dass es sich bei den weiteren Wörtern der Aufzählung um gar keine Begriffe handelt, sondern nur um Erfindungen, welche aus begrenzenden Erzählungen hervorgewürgt. So gibt es zum Beispiel bei dem Wort „Religion“ keine allgemeine Definition, bei dem Wort „Ethnie“ gibt es noch nicht einmal einen Gegensatz, da es sich dabei nur um Konzepte einer Selbstzuschreibung oder Fremdzuschreibung handelt, welche nur dazu nützlich, um das Identische, Gemeinsame als Unterschiedliches zu brandmarken.

Galgen

Die Grenzen deines Landes schlängeln sich,
sehen .auf der Karte aus
wie eine Schlaufe, in die ein Kopf passt.
Wirst du gefragt, Flüchtling,
aus welchem Land du kommst,
dann antworte:
Vom Hinrichtungsplatz
umgeben von Henkerländern.

Auf Grundlage der Aufzählung jener Wörter, welchen gar kein Begriff zugrunde liegt, da es an deren Definition mangelt, also einer präzisen Erklärung der Bedeutung der aufgezählten Wörter, und angesichts der Realität, welche jedem bestens bekannt sein dürfte, so er des Lesens, Hörens und Verstehens mächtig, präzisiert der Dichter die begrenzende Erzählung „Nation“ anhand wesentlicher Merkmale folgerichtig durch die gedankliche Einheit „Henkerland“.

Was bei den in der Aufzählung angegebenen Wörtern von den Gesellschaften als vorhandenes Wissen ausgegeben, entpuppt sich bei sorgfältiger Analyse der Fakten tatsächlich nur als Glauben, also einer Haltung der persönlichen Zustimmung, gepaart mit einer positiven Einschätzung, was den Dichter dazu nötigt, auch die Definition des Wortes „Glauben“ richtigzustellen, also jenes, was gutzuheißen ist und was nicht gutzuheißen ist:   

Vision

Begehe die Erde behutsam,
sie spiegelt deinen Körper.
Unterwirf dich nicht –
Weder Gott, den Eltern noch einer Idee.
Glauben bedeutet zu lieben, nicht unterworfen zu sein
und nicht zu unterwerfen.

Disput mit Gott

Wenn Kinder geboren werden,
ihren ersten Erfolg haben,
den ersten Milchzahn bekommen,
das erste Wort sagen,
wenn sie sterben
durch Hunger, eine Kugel, abgereichertes Uran
heben wir sie hoch
vor Freude und Trauer,
als Beweis für deine Existenz,
aus Protest gegen dich.

Spätestens mit diesem Gedicht wird deutlich, dass sich die Feststellungen des Dichters nicht auf sein Herkunftsland beziehen. Ist es doch nachweislich nicht sein Herkunftsland, welches bei den Kriegen im Irak, in Syrien und Bosnien abgereichertes Uran verwendete, sondern jene Länder, welche auch weiterhin darauf bestehen, Uranmunition einzusetzen, was dazu führte, dass die „Nationen“ USA, Großbritannien, Frankreich und Israel im Jahr 2015 die 6. UN-Resolution zur Ächtung der DU-Waffen ablehnten.

Ferner wird daraus ersichtlich, dass dem Dichter auch noch der Unterschied zwischen den drei Weltreligionen und dem Monotheismus bekannt ist. Legitimieren sich doch alle drei Weltreligionen durch den Satz „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ im ersten Buch der Thora, dem Buch Genesis, so als hätte da ein Bäcker ein Brot hergestellt. Was deren Klerikern ermöglichte, sich zwischen dem Bäcker und das Brot zu schieben, also zwischen jenem, von dem sie behaupten, es habe sie hierzu aufgefordert, und ihren Mitmenschen, um über diese Anmaßung nach Gusto ex cathedra – also kraft „höherer Entscheidungsgewalt“ – durch „Auslegung“ bestimmen zu können, sich dazu sogar in dem Wahn befindend, dafür die Gebote des Bäckers ignorieren zu dürfen. Diese Anmaßung als solche erkennend, wendet sich der Dichter in seinem Protest – an die Backstube.

In einem Brief an einen Freund schrieb der Dichter: „Lassen wir uns das Exil als Versuch begreifen, unsere Erfahrung zu bereichern und unsere Sensibilität für menschliche Probleme weiterzuentwickeln. Dies sind als Erstes die Gerechtigkeit, als Zweites die Freiheit und als Drittes die Liebe und Solidarität.“ Dies ist ihm zweifelsfrei vortrefflich gelungen.

Der kurze Weg von der Idee zur regelbasierten Unordnung namens Dogma

Venja: „Wilkommen Athugandi, du hast Neues auf deinen Reisen dir erfahren und weißt Neues zu berichten?“

Athugandi (Beobachter): „Nur das Übliche, die Evolution von trial-and-error ist weiter fortgeschritten.“

Venja: „Versuch und Irrtum? Wie kommt’s? Hat die wissenschaftsbasierte Informationsgesellschaft keine Wende herbeigeführt?“

Athugandi: „Das Gegenteil ist zu berichten. Du kennst ja den Grundsatz ‚Garbage in, garbage out‘. Offensichtlich gehört dieser Grundsatz zu den anthropologischen Konstanten.“

Venja: „Es gibt Ausnahmen. Ich finde hier Müll unter zahllosen Steinen. Offensichtlich ist den Touristen es zwar nicht zu beschwerlich, schwere Rucksäcke zu tragen, hingegen zu beschwerlich, leichte Rucksäcke zu tragen, welche nur noch leere Verpackungen enthalten. Sinnlos, die Gründe hierfür verstehen zu lernen.“

Athugandi: „ „Möglicherweise sind diese dazu unfähig, jene Begriffe zu verstehen, zu denen ein Gegensatz gebildet wurde.“

Venja: „Womit sich die Frage stelle, ob es sein kann, dass diese Gattung nicht hat, was ihrer Natur nach gehabt werden könne, also auch dann, wenn es für diese Gattung prinzipiell ausgeschlossen sei, das Fehlende zu haben …“

Athugandi: „… oder etwas zwar theoretisch haben könnte, es jedoch artbedingt oder individuell nicht hat.“

Venja: „Möglich wäre auch, dass sie dies etwa aus irgendeinem Grund nicht hat,  obwohl sie von Natur aus dazu geeignet wäre, das Fehlende in dieser Hinsicht zu haben.“

Athugandi: „Nun ja, dafür gibt es ja das Werden. Ich darf zitieren: Was aber wird, das wird alles durch etwas, aus etwas und zu etwas. Zu etwas meine ich im Sinne jeder Kategorie: Substanz, Quantität, Qualität, Ort. Natürlich heißt dasjenige Geschehen, wo sich ein Entstehen aus der Natur heraus vollzieht. Dabei ist das, woraus etwas wird, das was wir Materie nennen; das, wodurch etwas wird, ist irgend ein von Natur Gegebenes; das, wozu etwas wird, ist ein Mensch, eine Pflanze oder sonst etwas derartiges, was man vorzugsweise als selbständige Wesen bezeichnet.“

Venja: „Sie brechen jetzt- so ist zu hören –  in eine neue Ära der Menschheit auf, in der sie die Möglichkeit haben könnten, sich gegen den Einschlag eines Asteroiden zu schützen.“

Athugandi: „Wird der Einschlag nicht erst in einigen hundert Jahren erwartet? Wer oder was schützt diese Spezies bis dahin vor sich selbst?“

Venja: „Nun, es werden laufend Ideen entwickelt, wie dies gelingen könnte.“

Athugandi: „War bisher nicht zu beobachten, dass Ideen nur dann erfolgreich sind, sollte einer sie dazu verwenden, um daraus Dogmen zu schmieden?“

Venja: „Nun, Dogmen sind das Geglaubte, Gemeinte, Beurteilte und Beschlossene, wie Du weißt. Es blüht der Geist erst auf, wenn er beginnt, anderen etwas vorzuschreiben.“

Athugandi: „Wird mit Idee nicht etwas bezeichnet, was gesehen werde und einen bestimmten Eindruck mache?“

Venja: „Wenn dem so ist, dann hinterlässt offensichtlich nur Eindruck, was beschränktem Geist auch zuträglich. Dies würde allerdings den Fortschritt von der Idee über die Ideologie zum Dogma plausibel erklären, die Notwendigkeit einer regelbasierten Unordnung als anthropologische Konstante.

Athugandi: „Das Problem beginnt bereits bei der verwendeten Sprache.“

Venja: „Wie meinen?“

Athugandi: „Ich darf dich an die hierzulande übliche Vierteilung hugtak, skilgreining, vísimið und iðorð  erinnern? Nun, wie wir beide wissen, folgte anderenorts in der Geschichte der Schlamperei bei der Interpretation von Texten die Schlamperei bei der Übersetzung von Worten und Texten, daraufhin die Begriffserweiterung und Begriffsverengung, anstelle hierfür neue signifikante Ausdrücke zu entwickeln. Obendrein schmuggelten die Interpreten klammheimlich nur zu gerne auch noch eigenen Senf hinzu.“

Venja: „Nun, bereits vor mehr als 2000 Jahren wurde darauf hingewiesen, dass es zu einem Wort mehrere Bedeutungen gäbe, je nachdem, wie das Wort gebraucht werde.“

Athugandi: „Wirklich? Willst du mir etwa sagen, dass Wittgenstein abgeschrieben habe? Ist es nicht Aufgabe der Wissenschaft, Identität, Gleichheit und dergleichen, sowie die Gegensätze davon zu bestimmen?“

Venja: „Nun, es sind dort Dialektik und Sophistik, welche sich um das Reich der Objekte  und Gegenstände drehen. Es ist davon zu lesen, dass bei der einen die Richtung den Unterschied mache, welche das Erkenntnisvermögen einschlage, bei der anderen sei es das Lebensziel, welches sie sich stecke. Die Dialektik sei nur eine bloße Übung der Erkenntniskräfte an den Gegenständen, die Sophistik treibe hingegen die Wissenschaft nur zum Schein und sei daher keine wirkliche Wissenschaft.“

Athugandi: „Es steht auch geschrieben, dass im Falle,  ein Wort habe unendlich viele Bedeutungen, dann es offenbar gar keinen Sinn mehr mache, denn nichts Bestimmtes bedeuten heiße überhaupt nichts bedeuten, und wenn die Wörter nichts bedeuten, so ist damit das Sprechen der Menschen unter einander aufgehoben und in Wahrheit auch das Selbstgespräch. Denn es ist unmöglich zu denken, wenn man nicht etwas Bestimmtes denke. Solle dies aber weiterhin möglich sein, so müsse für die bestimmte Sache auch der entsprechende Ausdruck gesetzt sein. Du kennst ja hinlänglich meine Vorerkrankung, welche dazu führte, laufend Selbstgespräche führen zu müssen.“

Venja: „Ist mir bestens bekannt. Es sei also, wie wir beide zu Anfang gesagt haben: das Wort habe eine bestimmte und zwar eine einheitliche Bedeutung.“

Copyright (c) FOTO: REUTERS/Lucas Jackson)

Athugandi: „Nun, wie wir beide wissen, bietet die Lyrik, das Gedicht, erfreulicherweise ausreichend Medizin für jene, welche an Ideologien und Dogmen zu leiden haben. Verhält es sich doch so, dass die Lyrik völlig untauglich, hieraus Ideologien und Dogmen schmieden zu können. Als Entschädigung dafür eröffnet sie dem Leser den Raum für freie Assoziationen, welche die Erkenntnisfähigkeit  nicht eindämmen, sondern erweitern. Magst Du mit mir ein Lied anstimmen?

Venja fasste Athugandi bei der  Hand und beide tanzten einen Reigen auf ihrem Stein.

(20) Gráðugur halur,
nema geðs viti,
etur sér aldurtrega.
Oft fær hlægis
er með horskum kemur
manni heimskum magi.
1)

(20) Habgierig schlüpfrig
und ohne Acht
erfrisst er sich Ärger,
oft erntet Spott
wer zu anderen kommt
mit eines dummen Menschen Ranzen.

1) „Hávámál og Völuspa“, Gísli Sigurðsson, Svart á Hvítu, Reykjavik 1986 

Begriffsstutzig

troll-imadeWEB-1Tilvera: Es wird gesagt, Begriffe beruhten auf Übereinkunft, und ihre Bedeutung ergebe sich aus ihrem Gebrauch.“

Ónytjungur: „Du willst mir also erzählen, dass im Falle, Diebe kommen darin überein, das Fahrrad sei kein Diebesgut, sondern nur eine Ausleihung auf unbestimmte Zeit, dann …

Tilvera:Bist du heute von Begriffsstutzigkeit geplagt?

Ónytjungur: „Falls ja, dann mag das vielleicht daran liegen, dass mich die festgestellten Veränderungen im Gebrauch der Begriffe stutzig gemacht haben. Denn ich finde keine Übereinkunft mehr, keine einzige.“

Tilvera: „Als da wären? Ich meine die Veränderungen im Gebrauch der Begriffe.

Ónytjungur: „Wo soll ich anfangen, angesichts der großen Zahl an Veränderungen? Ich frage nur, denn das könnte dann etwas dauern.“

Tilvera: „Dann nimm das Unveränderte, also jene Begriffe, die auf Übereinkunft beruhen. Das müsste bei der großen Zahl an Veränderungen, und jener Begriffe, zu denen keine Übereinkunft besteht, ja kürzer werden.“  

Ónytjungur: „Als da wären?

Tilvera: „Wie wäre es zum Beispiel mit den Begriffen Absicht und Zweck. Nur um ein Beispiel zu nennen.

Ónytjungur: „Bist du heute von Begriffsstutzigkeit geplagt?

Tilvera: „Keineswegs. Bei beiden Begriffen herrscht Übereinkunft, sowohl was die Begriffe bedeuten, als auch deren Gebrauch.“

Ónytjungur: „Soso. Ich hörte aber davon, dass nun Absicht für Zweck ausgegeben, und wo Zweck vorhanden, dieser entweder auf Absicht oder auf Zufall beruhe.

Tilvera: „Es kann nicht anders sein.“

Ónytjungur: „Wie verhält es sich dann bei einem Neutron eines Uran-235-Atomkerns, und einer Person, die das Neutron aus dem Atomkern herausschießt? Das Neutron eines Uran-235-Atomkerns erfüllt nur einen bestimmten Zweck, es wäre sonst nicht an dieser Stelle, und wie wir wissen, das auch noch sehr erfolgreich, die Person hingegen verfolgt eine bestimmte Absicht. Beruht die Anwesenheit dieses Neutron nun auf Zufall, oder auf Notwendigkeit?“

Tilvera: „Wäre es nicht dort, wo es sich aufhältdann wäre schon längst geschehen, was geschehen wird, wenn die Absicht der Person in die Tat umgesetzt. Dann wäre aber auch nicht möglich, dass wir beide hier nun sitzen,  und du könntest auch nicht deine Begriffsstutzigkeit offenbaren.“

Ónytjungur: „Es ist auch davon zu lesen, die Gestalt der menschlichen Hand, die Anzahl ihrer Finger und deren Maße seien entweder aus Zufall oder aus Notwendigkeit so, wie sie sind.“

Tilvera: „Du schweifst ab. Es geht um Absicht und Zweck.“

Ónytjungur: „So ist es. Die Aussage über die menschliche Hand ist mittlerweile auch bereits 800 Jahre alt. Verhält es sich deiner Ansicht nach so, dass die Aufgabe der menschlichen Hand das Ergreifen ist, auch das Erfassen verschiedener Gegenstände, oder für die Angemessenheit, Werkzeuge zu halten?

Tilvera: „Deine Flucht in Trivialitäten macht deine Abschweifung nicht besser.“

Ónytjungur: „Das mag sein. Die Frage wäre doch, ob alles, was die menschliche Hand kann, was ja vom Wortsinne her Möglichkeit voraussetze – und ich hoffe, wir beide können wenigstens diesbezüglich auf eine Übereinkunft zurückgreifen -, auf deren Gestalt, der Anzahl ihrer Einzelteile und deren Maße beruhe – und ich hoffe, wir beide können auch hier auf eine Übereinkunft zurückgreifen -, …

Tilvera: „In beiden Fällen genehmigt.“

Ónytjungur: „ … und ob dies nun alles auf Zufall zurückzuführen wäre, oder auf Notwendigkeit.“

Tilvera: „Was hat das mit den Begriffen Absicht und Zweck zu tun? Willst du deine Abschweifung nicht langsam einstellen?

Ónytjungur: „Immer der Reihe nach. Vergiss nicht, wir beide bewegen uns im Augenblick auf der Ebene der Sprache, sind demnach dem Vokabular, der Grammatik, der Syntax und der Semantik dieser Sprache unterworfen. Da ist notwendig, diese einzuhalten, es sei denn, einer wolle nicht verstanden werden. Dann stellte sich jedoch die Frage, wozu er dann die Stille durch Geräusche störe, oder das Sichtbare durch Geschreibsel.

Tilvera: „Und?

Ónytjungur: „Wenn es also so ist, dass die menschliche Hand so ist wie beschrieben, und damit die Aufgabe erfülle, Dinge zu ergreifen, verschiedene Gegenstände zu erfassen, oder angemessen Werkzeuge zu halten, ist es dann nicht so, dass sie ihren Zweck erfülle, und dies nur darauf zurückzuführen ist, dass sie so ist, wie sie ist?

Tilvera: „Wäre sie anders, zum Beispiel so, dass es die Daumen nicht gäbe, sie erfüllte nicht …

Ónytjungur: „Willst du mir  gerade erzählen, dass zur Erfüllung der beschriebenen Aufgaben die menschliche Hand notwendig sei so wie sie ist?

Tilvera: „Sie wäre sonst für die Erfüllung der beschriebenen Aufgaben nicht so brauchbar, also für solche Zwecke.“

Ónytjungur: „Und aus welchem Grund kommt dann einer auf die Idee, es beruhe nur auf Zufall, dass die Hand so ist wie sie ist? Denn beruhe sie auf Zufall, dann würde es keinen Unterschied machen, ob den Menschen die Hand eigentümlich ist oder etwa Hufe oder irgendwelche anderen Körperteile, die den verschiedenen Tieren eigentümlich sind. Denn der Zufall benötigt keinen Grund, und benötige er einen, so wäre er nicht Zufall. Ist es nun die Aufgabe, also der Zweck, welche die menschliche Hand so formte wie sie ist, oder der Zufall? Denn der Zufall hätte auch zu einem Huf führen können.

Tilvera: „Die Form könnte auf Versuch und Irrtum beruhen.“

Ónytjungur: „Ein Huf wäre aber kein Irrtum, wie die Pferde belegen. Kein Zweifel möglich, es schätzt der Mensch die Logik; so sie nicht mit einer Idee kollidiere. Womit du auch noch unweigerlich bei der Absicht angekommen.“

Tilvera: „Ich bin nur bei Versuch und Irrtum angekommen.“

Ónytjungur: „Setzt Versuch nicht Absicht voraus? Beschreibt der Begriff Versuch doch, dass da etwas sei, was nicht so hingenommen, und daher zu probieren sei, wie probiert werde, einen anderen Zustand herzustellen, statt sich damit abzufinden. Setzt probieren nicht Absicht voraus? Ist doch etwas, was nicht so hingenommen werde, und daher ein anderer Zustand herbeigeführt werden solle, ein Beweggrund. Oder herrscht auch bei dem Begriff Beweggrund mittlerweile keine Übereinkunft mehr, und dessen Bedeutung ergebe sich nur nun aus seinem Gebrauch?“   

Tilvera: „Dann sage, es sei ein Motiv.“

Ónytjungur: „Wie auch immer. Vom logischen Standpunkt aus betrachtet würde es stets darauf hinauslaufen, dass der Zufall eine Absicht verfolgen müsse, also einen Beweggrund habe, du kannst es auch gerne Motiv nennen. Dumm nur, dass probieren dann nicht auf Zufall beruhe, da Beweggrund vorhanden, daher Zufall sich nur für einen solchen ausgebe.“

Tilvera: „Du sprichst in Rätseln.“

Ónytjungur: „Beweggrund ist eine Schranke, und ich hoffe, dass dazu wenigstens noch eine Übereinkunft existiere. Wenn alles Zufall ist, dann kann es auch keine Notwendigkeit geben, schließt doch das eine das andere aus. Da bei Notwendigkeit noch Möglichkeiten existierten, die nicht Notwendigkeit, da Notwendigkeit ja genau nur eine der Möglichkeiten, so wie auch Unmöglichkeiten existierten, so sind es die Unmöglichkeiten, die den Möglichkeiten – damit auch der Notwendigkeit – Schranken setzen, denn sonst ergäben alle drei Begriffe keinen Sinn. Dem Zufall hingegen können keine Schranken gesetzt sein, denn gäbe es da auch nur eine einzige, so wäre Zufall auch nicht mehr Zufall.“

Tilvera: „Na, dann bleibt mir wenigstens erspart, Zufall zu sein. Denn mir sind eine Fülle von Schranken gesetzt.“

Ónytjungur: „Nun verhält es sich aber auch noch so, dass Absicht eine Entscheidung voraussetze, und Entscheidung vorhandene Alternativen, denn wo keine Alternative, ist auch nichts zu entscheiden, und wo keine Entscheidung möglich, ist auch keine Absicht möglich. Wird probiert, so müssen zwar Alternativen gegeben sein, also mindestens zwei, allerdings ist bei probieren keine Entscheidung erforderlich, welche der Alternativen jetzt versucht, welche nicht, und welche später. Dabei wird aber übersehen, dass davor eine Entscheidung erfolgt sein muss, denn …

Tilvera: „… dies ergibt sich daraus, dass da etwas war, was nicht so hingenommen, und daher probiert wurde, einen anderen Zustand herzustellen, statt sich damit abzufinden, was einen Beweggrund konstituiere, ich weiß. Du weißt, was ein Korinthenkacker ist?

Ónytjungur: „Wer sagt, dass ich rechthaben möchte? Das genaue Gegenteil ist der Fall, ich bin nur ein Opfer meiner eigenen Begriffsstutzigkeit.“

Tilvera: „ Na, dann.

Ónytjungur: „Absicht setzt zudem vorhandenes Interesse voraus. Es sei denn, es wäre möglich, dass eine Absicht hinsichtlich etwas verfolgt werde, an dem gar kein Interesse bestehe. Das wäre aber meines Erachtens ein sehr merkwürdiges Gebaren. Führte es doch dazu, dass Zufall auch noch ein Interesse habe. Schon erstaunlich, welche Eigenschaften Zufall aufweist. Wenn also Absicht eine Entscheidung voraussetze, Entscheidung wiederum alternative Angebote voraussetze, so ist zu sagen, dass Zweck im Gegensatz hierzu weder alternative Angebote noch Entscheidung erfordere. Er ist einfach erfüllt, oder eben nicht. Können wir beide dahingehend zu einer Übereinkunft kommen?

Tilvera: „Meinetwegen. Falls sie dazu geeignet, die Angelegenheit zu verkürzen. Bist du nun mit deinen persönlichen Erkenntnissen über Wirklichkeit und Wahrheit fertig?

Ónytjungur: „Es gibt solche, die aussagen, Erkenntnis von Wirklichkeit und Wahrheit sei nicht möglich, und solche, die aussagen, sie verfügten über Erkenntnis von Wirklichkeit und Wahrheit. Beide Aussagen sind von gleicher Qualität. Denn die einen können es nicht wissen, und die anderen sich nur irren.“