Kein Isländer käme auf die absurde Idee, die Ausrichtung eines Musikfestivals für den Kern der Einwohner zu halten, als die Quintessenz, als mergur und kjarni, was den Kern bezeichne. Für Isländer kann Musik nur upploft sein, über der Luft, sprich: Äther. Auf Englisch: Airwaves.
Isländer sind vermutlich immun gegen den groben Unfug der Erbsenzählerei und wohlfeilen Substantivierung. Ein Unfug, der sich zum Beispiel darin zeigt, dass irgendeiner das bereits im Gebrauch befindliche Wort für eine Tätigkeit oder eine Eigenschaft substantiviert, andere diesem diverse Adjektive zuweisen, und damit sämtliche Voraussetzungen erfüllen, um auf Jahrhunderte hinaus mit Pro- und Contra-Argumenten mehrere Bibliotheken füllen zu können. So wird aus einer Situation, in der einer lauthals lachte, das „Lachen“. Dass jener in dieser Situation lachte, weil er den Satz „„Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen!“ las, ist irrelevant. Ist es doch das „Lachen“, was ihn dazu veranlasse, und nicht der konkrete Fall. Denn gäbe es „das Lachen“ nicht, … den Bibliotheken mag die Fortsetzung des Satzes erspart bleiben. Sie sind schon voll genug. Zudem lachen Isländer öfters als jene, die dazu erst in einen Keller müssen. Und schreiben lieber Erzählungen und Gedichte.
Entgegengesetzt verhält es sich bei solchen Ereignissen, wo einer ein Wort schöpft, um über dieses eine übergeordnete Klasse bezeichnen zu können, die er durch seine Analyse entdeckte, für welche aber noch kein geeignetes Wort geprägt war, was in moderner Zeit eine Generalisierung genannt, die das Gemeinsame abstrahiert, und dem dadurch Entstandenem einen Bezeichner gibt, damit auf ihn Bezug genommen werden könne. Wer in seinem Leben schon einmal einen Fiat, einen Mercedes, einen Ford und einen VW gesehen hat, wird bestätigen, dass diese konkret sind und irgendwann einmal zu Rost zerbröselten, also ihre Zeit hatten, und dürfte bestätigen, dass das Wort Auto deswegen nicht zerbröselte. Keiner käme auf die Idee, dem Auto Sein zumessen zu müssen wie den vier Exemplaren, die zu Rost zerbröselten. Und gäbe es kein einziges der Exemplare, das Wort Auto hätte seinen Zweck verloren.
Die Geburtsstunde des Bezeichners Äther liegt nun schon 2.300 Jahre zurück. Neben sonstigem Unfug sah sich das Mittelalter gemüßigt, das Wort durch das Wort Quintessenz zu ersetzen, was das fünfte Seiende bezeichne, maß diesem – so das Selbstverständnis der Gebrauchenden – die Bedeutung „das Wesentliche“, „das Wichtigste“ zu, womit auch der Hauptgedanke einer Argumentation gemeint.
Nun wäre anzumerken, dass der Schöpfer des Bezeichners damals einfach vier bereits vorhandene Bezeichner, die vier Dinge bezeichneten, aufgriff, diese analysierte, und feststellte, dass diese vier Dinge zwei Grundeigenschaften zugeordnet werden könne, wobei eine als Temperatur bekannt sei, die andere als Feuchtigkeitsgrad, und entwickelte darüber einen neuen Begriff, der alle vier Bezeichner umfasse, will sagen: deren Eigenschaften allesamt erbe: der Äther. Da er nicht blind war wie seine Vorgänger, die blind behaupteten, das einzige Unvergängliche seien die vier Elemente, und auch auf Einstein nicht warten konnte, sah er sich gezwungen, selbst zu verkünden, dass die vier Elemente keineswegs unveränderlich seien, sondern sich ineinander umwandeln könnten, die Summe aus den Vieren jedoch unveränderlich und zeitlos sei. Dieser Vorgang bei einer Analyse wird Generalisierung genannt, der sich von Pauschalisierung dadurch unterscheidet, dass der Oberbegriff alle Eigenschaften der ihm zugeordneten Begriffe erbt, was bei Pauschalisierung nicht der Fall ist. Der Oberbegriff ist jedoch über die Summe der durch Generalisierung geerbten Eigenschaften keineswegs beschrieben, sondern nur, dass der Oberbegriff auch über deren Eigenschaften verfüge, zu jenen, über die er sonst noch verfüge, die jedoch nicht Eigenschaften der zugeordneten Begriffe sind.
Ein jeder dürfte die Aussage dieses damals lebenden Grüblers über die vier Elemente bestätigen können. So er kein Erbsenzähler ist. Erbsenzähler sehen vier Erbsen, was sie dazu bringt, eine fünfte Erbse zu sehen, was sie –folgerichtig – dann Quintessenz nennen. Was denen logisch erscheint, denn wozu wurden sonst die Modalverben erfunden, die es in jener Zeit und an jenem Ort, als das Wort Äther einer Beschreibung zugeführt, in der Grammatik noch gar nicht gegeben hatte. Das Eigentliche, Wesenhafte, das Ergebnis eines solchen Vorgangs, das Wort Äther durch Quintessenz zu ersetzen? Aus Vier mach Fünf.
Was erzwungen. Denn im Gegensatz zu dem Schöpfer der Zuweisung Äther gingen die Philosophen des Mittelalters davon aus, dass das Universum Anfang und Ende habe, die Seele nur Anfang und kein Ende, und es einen Plural zu dem Wort „Intellekt“ geben müsse. Nach dem Mittelalter spalteten sich die „Intellektuellen“ dann in Atheisten, die der Seele ein Ende zuwiesen, und Klerikern, die dies nicht taten. Alle anderen Punkte blieben zwischen den Kontrahenten weiterhin unstrittig, auch wenn deren Erzählungen in Folge etwas unterschiedlich ausfielen: was den Anfang des Universums betraf, war es bei den einen ein Gott, bei den anderen ein Urknall.
Isländer sind nicht unbedingt bekannt dafür, dass sie gerne Befehle entgegennehmen. Wittgenstein schien es geahnt zu haben, als er den Satz niederschrieb: „Befehle werden manchmal nicht befolgt. Wie aber würde es aussehen, wenn Befehle nie befolgt würden? Der Begriff Befehl hätte seinen Zweck verloren.“ Und so kam, was kommen musste: Die Isländer nannten ihr Musikfestival nicht etwa Quintessenz, sondern Äther.
Schon das Konstrukt des Äthers, so nennen die Isländer ihr Musikfestival, das seit 1999 jedes Jahr veranstaltet wird, zeigt deutlich, dass Isländer zwar die Fünf oft und gerne gerade sein lassen, aber keineswegs davon ausgehen, dass es ein fünftes Seiendes gebe. Für Isländer gibt es Feuer, Wasser, Luft und Erde, und die Probleme und Lösungen, die einem aus diesen Vieren erwachsen, sind ihnen schon ausreichend genug. Sie wissen, wo das Land den Menschen formt, zeigt es ihm auch die Grenzen auf, will er das Land formen. Allerdings gebe es da noch den unwandelbaren und zeitlosen Äther, innerhalb dessen die vier Elemente sich ineinander umwandeln, und der die Eigenschaften der vier Elemente erbe. Was da geerbt, könne jedoch nur dann sich annähernd vorgestellt werden, wenn alle Ergebnisse die Möglichkeit hätten, sich als Ergebnis auch zu präsentieren, da de facto vorhanden. Was vermutlich dazu führte, dass jede Formation aus Musikern, so sie einmal auf den Airwaves aufgetreten, nie wieder bei den Airwaves auftreten darf, und für jeden Gig einer Band in den zahllosen Pubs und sonstigen Lokationen nur 20 Minuten gewährt werden. Was Sinn mache, denn im anderen Fall wäre nur ein Teilsegment sichtbar, und wer wolle entscheiden, welches sichtbar werden dürfe und welches nicht? Das fünfte Seiende? Dies wäre zwar möglich, allerdings wäre dann nur jenes als Seiendes im Äther vorhanden, was irgendwelchen Vorstellungen irgendwelcher Personen genügte, und nicht jenes, was da ist.
Allerdings wird es mit den 20 Minuten nicht so genau genommen. Da kann es schon sein, dass eine Band wie Bubbi of Dimma oder andere Bands länger als 20 Minuten spielen. Was kein Problem ist, denn Isländer sind keine Polizisten. Oder dass das Konzert, das traditionell am dritten Oktoberwochenende veranstaltet werde, erst in der ersten Novemberwoche stattfindet. Für Isländer ist Zeit nicht jenes, was die Uhr sagt, sondern jenes, wofür sie diese verwenden.
Der reinste Albtraum. Für solche, die sich rühmen, dass sie genau wüssten, was gute Musik von schlechter Musik unterscheide, und dies die Motivation wäre, die sie dazu triebe, Konzerte veranstalten zu müssen. Nicht jedoch für Musiker und solche, die an Musik und Rhythmus interessiert. Führten die Musiker doch ein Selbstgespräch in jenem Augenblick, in dem sie erstmals Töne und Rhythmen zu einem Musikstück aneinanderreihten, jene Stimmungen in Musik überführend, welche die spezifischen Wandlungen der vier Elemente in ihnen weckten, und sollten sie dies in einer Gruppe tun, dann entstand daraus nichts anderes als die Summe der Selbstgespräche der daran Beteiligten, über die eine Einigung herbeigeführt.
Gibt es doch zwei Sichtweisen bei jeder Wertzumessung. Diejenige, welche das Bewirkte, und jene, die das Bewirkende sieht. Isländern ist der Unterschied geläufig. Kennen sie doch die Sätze, die Halldor Laxness vor 60 Jahren den tausenden Isländern im Hafen von Reykjavik zurief, die zum Kai gekommen waren, um ihn, der gerade den Literaturnobelpreis erhalten hatte, willkommen zu heißen: “Einmal mehr will ich ein kleines Zitat benutzen, welches ich zuvor schon benutzt habe, über einen Poeten, der seiner Liebsten ein Gedicht schickte, eine ganze Gedichtserie. Als sie ihm dafür dankte, sagte er die folgenden Worte in Versform: ‘Danke mir nicht für die Gedichte, denn du warst es, die du sie mir vorher gegeben hattest.’”
Und ist da einer, der bezweifelt, dass die Musikstücke zeitlos und unveränderlich sind, er mag ein Gerät entwickeln, und es in 100 Jahren 10,5 Millionen Kilometer entfernt von Reykjavik aufstellen. Ein Gerät, das intelligent genug konstruiert ist, um die Schallwellen soweit verstärken zu können, dass sein Ohr vernehmen kann, was an dieser Stelle in diesem Augenblick durch den Äther schwirrt. Und es gibt keinen, der dies verhindern könne, mit der Behauptung, es handle sich da um gute oder schlechte Musik. Er darf es dann selbst entscheiden. Wer nicht so lange warten mag, möge sich auf Island gleich auf einem der zahlreichen Festivals sein eigenes Urteil bilden. Ist es doch so: was dem einen nur Geräusch, ist dem anderen Musik. Und damit Musik den Äther nicht nur zu Beginn des Winters bereichere, darum kümmern sich alljährlich zahlreiche weitere Musikfestivals.