Vom Kronkorkenjagen und Tischesammeln

bv1Kultur als Gegenbegriff zu Natur bezeichnet wertungsfrei all das, was sich der Mensch geschaffen hat: Vom Pflug über den Tisch bis hin zum Kulturbeutel und anderen Reiseutensilien.

Der moderne Kulturmensch hat sich weit vom Jäger- und Sammlerdasein entfernt, und solch ehrwürdige Berufe wie Wilderer oder Kräuterhexe sind nahezu ausgestorben. Dennoch hat sich in irgendeinem Hinterstübchen seines Hirns der Trieb erhalten, zu sammeln und zu jagen und manch einen führt diese Leidenschaft rund um den Globus.

Es gibt Menschen, die wollen Abbilder möglichst aller Landstriche des Planeten Erde auf ihren Speichermedien versammeln,  andere jagen quer über die Weltmeere virtuellen Werten nach, und dann gibt es die, die auf ihren Wanderungen und Reisen reale Dinge einsacken, die gemeinhin als wertlos gelten.

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Kronkorken (Dellusafnið in Flateyri)

Die Wortesammlerin, die über den Atlantik fliegt, um in einer Bibliothek ein verstaubtes, der Vergessenheit anheimgefallenes Buch zu lesen, das nur in diesem einen einzigen Exemplar existiert, gilt als verrückt, ebenso jener Kronenjäger, der Fernreisen nur deswegen unternimmt, um seiner Sammlung von Kronkorken ein weiteres Exemplar hinzufügen zu können.

Auch ich habe jüngst einen Kronkorken von einer Reise mitgebracht und ihn auf meinen Kronkorkenuntersetzer gelegt, den ukrainische Freunde vor Jahren gebastelt und mir als Geschenk überreicht hatten. Der Verschluss zierte einst die Vermonter Bierflasche der Marke „The Long Trail“ und zeigt auf rotem Grund die Silhouette eines ausschreitenden Wanderers mit langem Stab. Kein Wunder also, dass mein Auge automatisch nach diesem Motiv in der Kronkorkensammlung des Dellusafnið in Flateyri suchte. Das sogenannte Nonsense-Museum in dem kleinen Fischerort in den isländischen Westfjorden widmet sich verschiedenen Formen der Sammelleidenschaft.

Ist Sammeln wirklich etwas Sinnloses, nur weil das Sammelgut nicht dem Lebensunterhalt dient, sondern andere Gelüste befriedigt, ähnlich jener, die beim Puzzeln im Spiele sind? Sammeln gehört zu den Vorgängen, die sich (in den wohlhabenden Regionen der Erde) von Arbeit in Spiel verwandelt haben, ein Spiel mit meist kleinen Kulturdingen.

Ein Kronkorken hat nahezu keinen materiellen Wert. Einmal entfernt verschließt er die Flasche nicht mehr richtig und wird daher achtlos vermüllt. In der Wegwerfgesellschaft erscheint das Sammeln solch vermeintlich wertloser Gegenstände als unsinnig. Gesellschaftlich anerkannt ist allerdings das Sammeln von Kronkorken, wenn es bedürftigen Institutionen zu Gute kommt. Auch ich sammle Kronkorken für das Till-Eulenspiegel-Museum in Schöppenstedt, dessen Mitarbeiter das säckeweise eingehende 21-zackige Blech auf dem Altmetallmarkt verkaufen – eine durchaus beachtliche Finanzspritze für das kleine Museum.

Der Isländer Ómar Smári ist, so heißt es im Begleittext des Dellusafnið, in der Welt herumgefahren, um Kronkorken zu sammeln. Ich sehe ihn vor mir, wie er vorsichtig den Verschluss von einer Flasche löst, um ihn nicht zu beschädigen. Dann besieht er sich das neu erworbene Prachtstück mit großen Behagen, während er den freigegebenen Inhalt der Flasche zwar trinkt, ihm aber nicht die gleiche Aufmerksamkeit schenkt wie dem neuen Sammlungstück (das freilich ist nur eine Hypothese meinerseits). Die mit dem Erwerb des Kronkorkens verbundene Reise mit all ihren Abenteuern und Mühen macht diesen besonders wertvoll, denn nun ist jeder seiner Zacken mit Erinnerung besetzt und damit unterscheidet er sich grundsätzlich von der seltenen Briefmarke, die sich ein anderer passionierter Sammler bequem per Post ins Haus schicken lässt.

Wer auf einer abgelegenen Insel lebt, hat ohnehin das Bedürfnis zu reisen, und so haben fast alle isländischen Sammler, die dem Dellusafnið ihre Schätze übereignet haben, auf ihren Reisen gesammelt oder wie der Kronensammler zielgerichtete Sammlungsexkursionen unternommen. Doch warum hörten sie auf zu sammeln? Heimischer Platzmangel und die Museumsgründung haben diese schwere Entscheidung sicherlich befördert. Doch da gibt es auch Valgerður, die befand, 300 Sammlungsstücke seien genug. Sie sammelte Affen.

Das Sammeln von Naturgütern ist ein begrenztes Unternehmen. Sicherlich, Sack, Korb oder Beutel, was auch immer zur Aufnahme des Sammlungsgutes verwendet wird, muss gut gefüllt sein, bevor Mensch mit dem Sammeln aufhört und seine Schritte heimwärts wendet. Das Volumen des Behälters setzt dem Sammeltrieb Grenzen, doch wie bestimmt sich die Grenze beim Sammeln von menschengemachten Affennachbildungen?

Das Sammeln von Naturgütern hat immer mit Bewegung zu tun. Ob Ähren oder Beeren – Mensch schreitet vorwärts, der Blick schweift umher, Mensch bückt sich, greift zu, steckt ein, richtet sich wieder auf, geht weiter …

Briefmarken sind selbstreisendes Sammlungsgut und kommen per Post. Der Sammler muss sie nur einem Umschlag entnehmen oder von einem solchen ablösen. Bücher, Süßwaren oder Schuhe brauchen zum Schutz größere Umschläge, und werden meist in Pappschachteln versandt.

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Kugelschreiber (Dellusafnið in Flateyri)

Statt Briefmarken solche Schachteln zu sammeln, ist wegen des hohen Platzbedarfs keine sehr gute Idee. Menschen, die keine Schachtel wegwerfen können, gehören meist zur Spezies der Das-könnte-ich-doch-noch-einmal-brauchen-Sammler, die oft fälschlicherweise als Messies bezeichnet werden. Dabei wollen sie die Schachteln gar nicht sammeln, sondern wieder befüllt an andere potentielle Schachtelfreunde verschicken, doch ach, die versammelten Schachteln haben nie die passende Größe für den vorgesehenen Inhalt.

Auch wenn ich mich gerne über den eigenen oder fremden Schachtelsammeltrieb lustig mache, möchte ich aber folgendes zu bedenken geben: Alltagsgegenstände und Plunder im Überfluss gibt es in anderen Regionen des Planeten Erde nicht; nicht überall herrscht die vermeintliche „Kultur“ des Wegwerfens. Und es gibt Millionen von „Kulturbanausen“, die die Wegwerf-Dinge für einen Hungerlohn herstellen, ohne sie sich jemals leisten zu können. Oder die sich überlebenshalber die Abfälle der Kulturbeutel-Besitzer auf Müllkippen zusammensammeln müssen.

Auf der entlegenen Nordmeerinsel Island, wo die meisten Gebrauchsgüter importiert werden müssen und an hauptstadtfernen Orten nicht so leicht zu beschaffen sind, achten die Menschen die Dinge mehr als auf dem europäischen Festland und sind eher einem pragmatischen Das-könnte-ich-doch-noch-einmal-brauchen-Prinzip verpflichtet. Dies gilt freilich nicht für die passionierten Sammler, denn diese benutzen ihre Sammlungsgegenstände nicht und wollen auch nicht, dass sie benutzt werden. So schaut der Besucher des Dellusafnið je nach Suchtpotential begehrlich auf die hinter Glas verborgenen vollen Schnapsfläschchen oder die prallen Zuckertütchen und -Würfelchen. Manch einer würde gerne ausprobieren, wie sich seine Zigarette an Heuschrecken, Penissen, Fahrrädern, Zangen oder gar Feuerlöschern entzünden ließe, muss sich jedoch mit dem Anblick all dieser verkleideten Feuerspender begnügen.

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Feuerzeuge (Dellusafnið in Flateyri)

Selbst den skurrilsten Dingen, die sich der kulturbeflissene Mensch ersonnen hat, ist eine gewisse Funktionalität nicht abzusprechen. So besitzt auch ein als Delfin verkleidetes Feuerzeug eine Standfläche, damit es auf einem Tisch abgestellt werden kann. Die Funktion des Tisches wiederum besteht hauptsächlich darin, Gegenstände, die ein sitzender Mensch benutzen möchte, aufzunehmen und in einer waagrechten Position zu halten. Nun könnte es ja egal sein, an welchem Tisch der Mensch sein Frühstück verzehrt, aber mitnichten: Neben Form, Farbe, Größe und Erhaltungszustand (alles Faktoren, die zumindest teilweise mit Funktionalität zu tun haben) spielt gänzlich Unfunktionales, nämlich Emotion, eine unerhört große Rolle.

Neulich sagte jemanden über einen alten, abgenutzten Tisch, für den sicherlich niemand mehr einen Pfifferling gegeben hätte: Diesen Tisch kann ich nicht weggeben oder gar wegschmeißen, denn daran habe ich schon als Kind gesessen und gegessen. Unvergessliche Erinnerungen haben sich in die Rillen des Tisches gegraben, das macht ihn für einen einzigen Menschen so unersetzbar wertvoll.

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Zuckerstücke (Dellusafnið in Flateyri)

Erinnert er sich dann aller Tische, die ihm im Laufe eines ganzen Lebens unter sich Zuflucht, an sich Sättigung und auf sich sicheren Stand gewährt haben, kommt sicherlich eine beachtliche Anzahl zustande. Doch ihre Sammlung würde die Dimensionen jeglicher Behausung sprengen und selbst ein geräumiges Museum vor Probleme stellen. So stehen viele einzigartige und unersetzliche Tische einzig in Gedächtnisräumen herum, wo sie unverstaubt vor sich hindämmern können.

Sammlung bedeutet auch: Konzentration auf das Wesentliche. Und ganz versammelt bin ich erst, wenn ich nicht Kulturgüter wie Worte oder Schachteln sammele, sondern das, was die Natur mir pur anbietet. Auch beim Sammeln von Affen oder Kronkorken wäre mir nie aufgefallen, was ich mehr als sechs Jahrzehnte lang falsch angefasst habe. Aber als ich im vergangenen Herbst ein paar Kilometer vom Dellusafnið entfernt an einem Berghang des Önundarfjordes saß, den wiederkäuenden Schafen zusah und Blaubeeren sammelte, bemerkte ich plötzlich, dass meine Linke blutrot vom Beerensaft war. Ich, die vermeintliche Rechtshänderin, pflückte die Beeren mit der linken Hand ab. Als ich versuchte, mit der Rechten zu zupfen, fühlte ich Unbehagen in mir aufsteigen. Und bei weiteren Sammlungen kamen immer mehr Erinnerungen („Nimm den Löffel in die rechte Hand“, „Gib das richtige Händchen“) hoch, die die frühe, konsequente Umerziehung zur Benutzung der „Kultur“hand belegen. Ich werde wohl nicht mehr lernen, mit meiner Naturhand zu schreiben – aber Sammeln, das tu ich fortan bewusst mit Links.

Der Ball und die Verantwortung

troll-imadeWEB-1Tilvera: „Es ist davon zu lesen, der Ausgang der Abstimmung einer Nation hinsichtlich der Frage, ob sie in der EU bleiben soll oder nicht, zeige einen wesentlichen Unterschied zwischen plebiszitärer Demokratie und repräsentativer Demokratie.“

Ónytjungur: „Inwiefern?“

Tilvera: „Nun, er ist Philosoph, er weiß daher, wovon er redet. Er wirft das Argument in den Ring, dass Erstere zwar direkter erscheinen mag, denn es geschehe, was das Staatsvolk sage, tatsächlich würden in ihr aber die Verantwortlichkeiten verloren gehen. Dem gegenüber weise aber eine Wahl in einer repräsentativen Demokratie klar Verantwortung zu.“

Ónytjungur: „Es ist immer gut, Schein von Tatsachen unterscheiden zu können.“

Tilvera: „Demnach muss das, was das Staatsvolk sage, Schein sein, denn tatsächlich – folge ich der Behauptung – wolle es etwas ganz anderes sagen.“

Ónytjungur: „Und was es tatsächlich sagen wolle, wissen nur jene, die nicht so sagen.“

Tilvera: „Und wozu lassen diese dann das Staatsvolk überhaupt was sagen?“

Ónytjungur: „Vielleicht ist es die Großzügigkeit des Repräsentanten, die dem Staatsvolk das Recht auf freie Meinungsäußerung gewährt.“

Tilvera: „Wenn es nun so ist, dass das, was das Staatsvolk sage, nur Schein ist, und nur die Repräsentanten wissen, was das Staatsvolk tatsächlich sage, repräsentierten diese dann nicht nur den Schein?“

Ónytjungur: „Das hängt davon ab, was du mit dem Fremdwort repräsentieren meinst. Meinst du damit vertreten, dann repräsentieren sie nicht, mit der Begründung, dass dies notwendig sei, um zu repräsentieren, meinst du aber typisch sein für etwas, dann kannst du von repräsentieren sprechen, wäre dann aber von diesem etwas abhängig. Könntest du  dieses etwas eventuell etwas typisieren?“

Tilvera: „Das ist eine schwierige Aufgabe.“

Ónytjungur: „Interessant ist auch die Einzahl Verantwortung, auf Mehrzahl angewendet. Wie habe ich mir das vorzustellen? Ist damit nicht die Mehrzahl für nichts mehr verantwortlich, was ja für alle gelten müsse, da jeder von ihnen ja Element der Mehrzahl Verantwortlichkeiten, und keiner von diesen ja Repräsentant, an den Verantwortung abgegeben? Und wer ist dieser Repräsentant?“

Tilvera: „Da verhält es sich vermutlich so, wie es sich bei Gesellschaft verhält. Du erinnerst dich noch an die Worte des Dichters Halldór Laxness, die er in seinen Kindheitserinnerungen Í túninu heima festhielt?“

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Foto: ALGORITHMICS á Íslandi

Ónytjungur: „Sogar wörtlich: Die Gesellschaft existierte nicht einmal, als ich aufwuchs. Wir wollen hoffen, dass es sie heute gibt, damit man sie verbessern kann, obwohl ihre Anschrift unbekannt ist und es nicht möglich ist, sie vor Gericht zu belangen. Neulich fragte ich einen intelligenten Bekannten, ob er wisse, was die Gesellschaft für ein Verein sei: das Volk, die Regierung, das Alþing, oder vielleicht die Summe von all dem?“

Tilvera: „Nun, dem Philosophen zufolge kann das Staatsvolk schon mal nicht Repräsentant sein, bliebe noch die Regierung und das Parlament, denn wenn das Staatsvolk spreche, könne es in keinem interessanten Sinn von Verantwortung verantwortlich gemacht werden, so der Philosoph.“

Ónytjungur: „Lass mich raten: was ein interessanter Sinn ist, und was nicht, hat der Philosoph nicht angegeben.“

Tilvera: „Er sieht sich als Philosoph. Er ist auch einer.“

Ónytjungur: „Da ist es doch gut, dass du kein Philosoph bist, und auch noch gewillt bist, sorgfältig zu untersuchen, bevor du redest. Sage mir, wie war das damals, im Jahr 2009, als die Verantwortlichkeiten sprachen, den einzigen Baum vor dem Parlament verbrannten, der zur Verfügung stand, in welchem uninteressanten Sinn von Verantwortung können die Verantwortlichkeiten verantwortlich gemacht werden, denn in einem interessanten Sinn von Verantwortung können sie ja nicht verantwortlich gemacht werden?“

Tilvera: „Dazu müsste ich wissen, was in diesem Zusammenhang interessant wäre, und was uninteressant.“

Ónytjungur: „Wie war das damals, als die Repräsentanten in ihrer Not der Erpressung von Wucherern, die auch nur repräsentierten, zustimmen mussten, und die Verantwortlichkeiten den Repräsentanten die Möglichkeit zur Ratifizierung der Erpressung entzogen, in welchem uninteressanten Sinn von Verantwortung können da die Verantwortlichkeiten verantwortlich gemacht werden, denn in einem interessanten Sinn von Verantwortung können sie ja nicht verantwortlich gemacht werden?“

Tilvera: „Auch dazu müsste ich erst wissen, was in diesem Zusammenhang interessant wäre, und was uninteressant.“

Ónytjungur: „Und wie war das, als die Verantwortlichkeiten in diesem Jahr sich solange vor dem Alþingi versammelten, bis der Repräsentant endlich sich bequemte, seinen Schreibtisch zu räumen, in welchem uninteressanten Sinn von Verantwortung können hier die Verantwortlichkeiten verantwortlich gemacht werden, denn in einem interessanten Sinn von Verantwortung können sie ja nicht …“

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Foto: Bernhild Vögel

Tilvera: „Du kannst so viele Ereignisse aufzählen, wie du willst, es wird stets auf das Gleiche hinauslaufen, nämlich dass ich dir mitteile, dazu erst wissen zu müssen, was in diesem Zusammenhang interessant wäre, und was uninteressant.“

Ónytjungur: „Nimm all diese Ereignisse, und es gäbe noch mehr von diesen, ist es dann so, dass jenes, was darüber vermieden beziehungsweise herbeigeführt, denn  beide bedingen bekanntlich einander, jenes ist, was eine Entscheidung darüber zulasse, ob Verantwortlichkeiten durch Verantwortung  sinnvoll ersetzbar, oder nicht?

Tilvera: „Nun, das Argument kam aus einer großen Fußball-Nation, und dort gelten andere Regeln.“

Ónytjungur: „Und welche Regeln?“

Tilvera: „Nimm zwei Mengen, die sich uneins sind, in welches Tor der Ball soll, und sich deswegen bemühen – gegen die Widerstände der jeweils anderen Menge – den Ball in deren Tor zu bugsieren, und nicht in das eigene.“

Ónytjungur: „Und?“

Tilvera: „Einmal angenommen, der einen Menge wird die Rolle des Staatsvolkes zugewiesen, und der anderen Menge die Rolle der Repräsentanten, also Verantwortlichkeiten gegen Verantwortung, beziehungsweise Verantwortungslosigkeit gegen Verantwortung, da die eine Menge ja in keinem interessanten Sinn von Verantwortung verantwortlich gemacht werden könne, …“

Ónytjungur: „… dann erklärte diese Anordnung, dass es damals dort nur die Repräsentanten waren, da diese schließlich die Verantwortung trugen, also die Nazis, und keineswegs das Staatsvolk, denn in einem interessanten Sinn von Verantwortung könne dieses ja nicht verantwortlich gemacht werden.“

Tilvera: „Was schließt du daraus?“

Ónytjungur: „Dass der Ball die Rolle der Verantwortung übernommen hat? Das wäre eine feine Sache, denn am Ende hat sie keiner. Der Ball verweilt auch nicht im Tor, in welchem er auch immer gelandet sein mag, sondern wird immer wieder herausgeholt, und die ganze Prozedur beginnt erneut.“

Tilvera: „Und letztlich bleibt es auch nicht bei dem einen Spiel. Womit ich bei repräsentieren im Sinne von typisch sein für etwas angekommen, und ob ich dieses etwas, was noch undeutlich, typisieren könne oder nicht.“

Ónytjungur: „Und, kannst du?“

Tilvera: „Was auffällt, ist, dass die einen Leute mit der Pauschalisierung repräsentieren operieren, die anderen nicht. Die anderen Leute arbeiten nicht gerne mit Pauschalisierungen, die keine Generalisierungen sind, sind es daher gewohnt zu differenzieren, da sie lieber präzise sein wollen. Sie finden daher keine Verwendung für das Verb repräsentieren. Sie verwenden an dessen Stelle drei voneinander unterscheidbare Ausdrücke, als da sind vera í staðinn fyrir (im Sinne von: Ersatz für), oder hafa umboð fyrir (im Sinne von: jemanden in einer bestimmten Funktion anerkennen und zulassen), oder koma fram í nafni (im Sinne von: im Namen von). Es ist sozusagen typisch für jene. Habe ich damit den Ausdruck typisch sein für etwas für dich genügend typisiert?

Ónytjungur: „Mir genügt es. Setzt doch das Verb vertreten im Sinne von Ersatz für … voraus, dass im Namen von … gehandelt, und mit der Präposition von jeder Einzelne ohne jede Ausnahme genannt, und keineswegs eine Teilmenge. Denn wäre zugelassen, dass nur eine Teilmenge repräsentiert zu werden brauche, und diese bestimmte Funktion im Namen aller anzuerkennen und zuzulassen wäre, dann …“

Tilvera: „… wäre die Wahl damals am 5. März 1933 von allen dort hinzunehmen gewesen, da ja sonst tatsächlich – wie der Philosoph feststellt – die Verantwortlichkeiten verloren gegangen wären, wogegen eine Wahl in einer repräsentativen Demokratie – wie damals geschehen – dem gegenüber klar Verantwortung zuweise.“

Ónytjungur: „Moment … in einer plebiszitären Demokratie hingegen wäre an diesem Tag dem geiferndem Geschwätz eines großen Teils der Leute, die behaupteten, von einer arischen Großmutter abzustammen, die es in Wirklichkeit nie gab und auch nicht geben konnte, mit 56,1 % der Stimmen noch eine klare Absage erteilt worden, was ja – so einer rechnen kann – unweigerlich geschehen wäre, hätte es eine plebiszitäre Demokratie gegeben, …“

Tilvera: „… und müssten bei einer plebiszitären Demokratie dort nun die Rattenfänger, die behaupten, von einer biodeutschen Urgroßmutter abzustammen, die es auch in Wirklichkeit nie gab und auch nicht geben konnte, erst 50,01 % Wählerstimmen hinter sich scharen …“

Ónytjungur: „… und nicht nur eine Schar, die kleiner ist als 50 %, wie bei einer repräsentativen Demokratie, was ja viel leichter erreichbarEs wäre ein Lehrstück in Demokratie, denn es zeigte, was die plebiszitäre Demokratie leiste, die repräsentative Demokratie hingegen verfehle. Kann der Philosoph nicht rechnen?

Tilvera: „Der Philosoph wünscht sich  aber– ungeachtet dessen – die Zuweisung von Verantwortung für Entscheidungen, und die sieht er nur in repräsentativer Demokratie gegeben, nicht jedoch in einer plebiszitären Demokratie.“

Ónytjungur: „Interessant. Er hat wohl auch noch vergessen, dass der Wille zur Macht bekanntlich die Sinne vernebelt, auch ein Gedicht scheint er vergessen zu haben.

Tilvera: „Die Angelegenheit wird damals wie heute vom gleichen System getragen.

Ónytjungur: „Du meinst die repräsentative Demokratie?“

Tilvera: „Ich meine das System Ideologie: In aller Regel auf dem einen Auge blind, und auf dem anderen Ohr taub. Der Wille zur Macht führt zur Redseligkeit, und der kleine Kompromiss wird als weise Tat ausgegeben. Ich habe keine Ahnung, welcher Gewinn sich davon versprochen wird.

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Foto: Bernhild Vögel

Ónytjungur: „In der Tat. Es ist schon bemerkenswert, dass diese Gattung sich selbst Intelligenz zuschreibt, da sie im Gegensatz zu allen anderen Gattungen über die Fähigkeit verfügt, einen Rasenmäher zu erfinden und herzustellen, damit keine Blüten ihren Blick auf ein Heer abgesägter  Grashalme trübe.“

Tilvera: „Mir scheint, mein Freund, du bist für jegliche Kultur untauglich.“

Ónytjungur: „Dann hast du begriffen, warum ich hier diesen Stein in der Einöde bevorzuge.“