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Die Macht der Vorstellungskraft, um begrenzende Erzählungen zu überwinden

Titel: Nachruf auf die Leere
Autor: Yamen Hussein
ELIF Verlag
ISBN: 978-3-946989-36-3
18 €, 120 Seiten

​Vorab sei angemerkt, dass Hinweise darauf, wodurch dem Dichter, Mathematiker und Journalisten Yamen Hussein der Ausbruch aus der Leere gelang, dem Haptiker vorbehalten sind. Der Gedichtband kann beim ELIF-Verlag problemlos online bestellt werden. Dieser Versuch einer Betrachtung beschäftigt sich nur mit den Hinweisen des Dichters auf die Ursachen der Leere.

Im März 2021 publizierte der ELIF-Verlag mit dem Gedichtband “Nachruf auf die Leere” Gedichte von Yamen Hussein, ins Deutsche übersetzt von Leila Chammaa und Jessica Siepelmeyer. Bereits der Titel des Gedichtbands lässt aufhorchen: Was wird hier unter dem Begriff “Leere” verstanden? Das Nichts, ein Begriff, zu welchem die Philosophen viele Bedeutungsaspekte im Lauf der Jahrhunderte diskutieren? Oder das Gefühl einer Person, nichts zu haben, was sie erfülle? Bedeutet “Nachruf” nicht einen Text über einen Verstorbenen?  Vermutlich beantwortet das Gedicht “Geburtsurkunde” die offene Frage:

Geburtsurkunde

Natürlich erinnere ich mich nicht an meine Hebamme, die meinen Kopf aus einem Dunkel ins nächste gezogen hatte.

Es wäre in Missverständnis und ein grober Irrtum, die Aussage des Autors über das Dunkel nach seiner Geburt dahingehend auszulegen, seine Gedichte wären Ergebnisse  eines Flüchtlings, der vor einem autoritären Regime geflüchtet sei. Dies würde seine Selbstaussage als Lüge hinstellen, der zufolge Poesie für ihn sehr wichtig für die Entwicklung des Selbst ist. Er studierte Mathematik und schrieb Gedichte, welche nur für ihn persönlich waren, zum einen durch die Tür der Mathematik, weil er die formelhafte Natur der Mathematik genieße, zum anderen durch die Tür des Journalismus, wobei er an das „Wer, was, wo“ verschiedener Erfahrungen in seinem Leben dachte. Zudem betrachtet er die Einstufung als „Flüchtling“ als problematisch und verweist zu Recht darauf, dass auch Thomas Mann ein Flüchtling war, sich allerdings niemand sich an ihn als „deutscher Schriftsteller“ oder „Flüchtlingsschriftsteller“ erinnert.

Yamen Hussein bekannte in einem Interview, dass er für kein beabsichtigtes Publikum schreibe, sondern ehrlich gesagt nur sich selbst schreibe. Wenn es sich nun nach der Selbstaussage des Verfassers der Gedichte so verhält, dass seine Gedichte nicht auf eine Außenwirkung zielten, sondern für ihn selbst persönlich gedacht sind, da solches wichtig für die Entwicklung des Selbst – und die Lektüre der Gedichte erlaubt nicht den geringsten Zweifel am Wahrheitsgehalt dieser Selbstaussage -,  läge dann nicht die Schlussfolgerung nahe, dass das Dunkel die Ursache der Leere sei und die Poesie in Form eines Nachrufs dieses Dunkel nach und nach ans Licht bringe, mit anderen Worten: Ein Weg, um Hoffnung zu stiften, da – wie der Autor darlegt – Poesie uns in eine andere Welt versetze, uns die Kraft zu lieben, zu fühlen und zu lachen gebe? Da laut Albert Einstein Mathematik auf ihre Art die Poesie logischer Gedanken ist und der Autor seine Gedichte auch durch die Tür der Mathematik schrieb, und da der Autor dabei nicht auf Außenwirkung aus war, besteht die Hoffnung, etwas über jene Transformationen zu erfahren, welche im Stillen stattfinden, über die Macht der Vorstellungskraft, begrenzende Erzählungen zu überwinden.

Graciela Selaimen schrieb in ihrem Aufsatz “Beyond Impact and Scale: Affection as Living Transformation”: „Wir leben in der Illusion, Erfolg werde in Likes, Shares und Follower-Zahlen gemessen. Dieselbe Besessenheit von „Wirkung“ führt auf individueller Ebene zu Versagensängsten. Es ist die Logik „je sichtbarer, desto besser“ – selbst wenn Sichtbarkeit nicht unbedingt Verbindung, Tiefe oder echte Transformation bedeutet. Likes sagen nichts über Zuhören aus. Engagement ist nicht unbedingt Beziehung. Und Viralität ist oft nur Lärm. Und wenn wir zulassen, dass diese Maßstäbe bestimmen, was wertvoll ist, laufen wir Gefahr, das Wesentliche zu verlieren: Sorgfalt, Zeit, gegenseitige Einbindung – die Art von Transformation, die im Stillen, in den unterirdischen Netzwerken lebender Prozesse stattfindet.“

Jedoch, was ist unter dem Terminus „begrenzende Erzählungen“ zu verstehen?

Tauschhandel

Oh Land der aufgereihten Leichen,
ich gebe deine Ethnien, Nationen, Fahnen, Religionen her
für einen Schuh, den ich trage auf einem endlosen Weg
ohne Blick zurück.

Marina Babl schrieb in ihrem Beitrag zu dem Gedichtband „Siebzehn Minuten“ über die Gedichte von Yamen Hussein: „Innerhalb von 17 Minuten könnte man außerdem, wenn man es darauf anlegt und sich beeilt, den schmalen  Gedichtband von Yamen Hussein einmal von vorne bis hinten komplett durchlesen. Oder auch nur ein Gedicht daraus und sich das Gelesene im Kopf zergehen lassen, die Worte sacken lassen, nachdenken. Denn das Ungesagte wiegt in diesem Band schwerer als die wenigen, wohlplatzierten schwarzen Buchstaben.

Da Yamen Hussein in einem Interview darauf hinwies, dass er Gedichte auch durch die Tür des Journalismus schreibe und dabei an das „Wer, was, wo“ denke, ist davon auszugehen, dass er nicht nur zu präzisen Aussagen befähigt ist, sondern darüber hinaus auch in der Lage ist, die Frage „Was ist X“ zu beantworten, also die Essenz von „X“  zu erklären. Sind es doch oft Ausdrücke des allgemeinen Gebrauchs, die zur allgemeinen Währung der Kommunikation geworden sind, über deren Definition oder Erklärung sich die Menschen keine Gedanken machen, obschon diese nur verbale Statthalter sind und diese dazu verwendet werden, um zu suggerieren, einer wisse wovon er redet und spricht, als hätte er bereits alles begriffen. So erscheint zum Beispiel der Begriff „Nation“ im Verbund mit Aussagen über so unterschiedliche Begriffe wie Souveränität, Territorium, Grenze, Regierung, etc. Der Begriffsname signalisiert jedoch, dass hier noch Fragen offen sind, demnach Vorsicht und Verantwortung geboten ist, und Misstrauen angebracht ist gegenüber jene, welche zu verstehen vorgeben, was tatsächlich noch nicht begriffen worden ist.

Es ist davon zu lesen, dass Begriff, Ausdruck, Bedeutung und Definition in engem Zusammenhang stünden, da sie alle Aspekte der sprachlichen Repräsentation und Erfassung von Konzepten betreffen. Ein Begriff sei eine gedankliche Einheit, die durch einen Ausdruck, also eine sprachliche Form (Wort oder Wortgruppe), repräsentiert werde, die Bedeutung eines Ausdrucks sei jenes, was er bezeichne, also die Vorstellung oder das Konzept, das er hervorrufe, und eine Definition sei eine präzise Erklärung der Bedeutung eines Begriffs, die seine wesentlichen Merkmale herausstelle. Wenn dem so ist, liegt folgende Schlussfolgerung nahe:

Die Annahme, der Dichter beziehe sich mit dem Satz „Oh Land der aufgereihten Leichen“ nur auf sein Herkunftsland und nicht auf alle Länder, ist daher ein Irrtum, was an dem Plural des Wortes „Nation“ unschwer zu erkennen ist. Es gibt keinen allgemein anerkannten Begriff der Nation, was auf dessen ausschließlich legitimierender Aufgabe zurückzuführen ist, um die Gegenwart zu rechtfertigen. Handelt es sich doch bei dem Begriff „Nation“ nicht um etwas von Natur aus Gegebenes, sondern um etwas geschichtlich Gewordenes. Es muss einer schon jeden Geschichtsunterricht verschlafen haben, um nicht zu wissen, dass jene Gebilde, welche sich „Nation“ nennen, in der Regel aus drei Ereignissen heraus entstanden sind: Entweder haben sich abhängige Kreaturen einer Person unterworfen, welche ihre Familienangelegenheiten oder persönlichen Ansprüche dazu nutzten, ihre auf solche Art und Weise entstandenen „Untertanen“ auszusenden, damit sich diese in sogenannten Schlachten gegenseitig ermorden, oder eine Horde an Dieben und Mörder massakrierten die Bevölkerung eines Landes in einem Genozid, pferchten die Überlebenden in Reservate und stahlen deren Land. Da dies noch nicht genug, setzten sich bezüglich der noch übrig gebliebenen Länder Personen zusammen, zeichneten auf Landkarten Linien mit einem Bleistift bei Ländern, welche nicht die eigenen waren, nannten diese Linien „Grenze“ und teilten die auf solche Art und Weise entstandenen Gebilde unter sich auf.

Zudem fällt auf, dass es sich bei den weiteren Wörtern der Aufzählung um gar keine Begriffe handelt, sondern nur um Erfindungen, welche aus begrenzenden Erzählungen hervorgewürgt. So gibt es zum Beispiel bei dem Wort „Religion“ keine allgemeine Definition, bei dem Wort „Ethnie“ gibt es noch nicht einmal einen Gegensatz, da es sich dabei nur um Konzepte einer Selbstzuschreibung oder Fremdzuschreibung handelt, welche nur dazu nützlich, um das Identische, Gemeinsame als Unterschiedliches zu brandmarken.

Galgen

Die Grenzen deines Landes schlängeln sich,
sehen .auf der Karte aus
wie eine Schlaufe, in die ein Kopf passt.
Wirst du gefragt, Flüchtling,
aus welchem Land du kommst,
dann antworte:
Vom Hinrichtungsplatz
umgeben von Henkerländern.

Auf Grundlage der Aufzählung jener Wörter, welchen gar kein Begriff zugrunde liegt, da es an deren Definition mangelt, also einer präzisen Erklärung der Bedeutung der aufgezählten Wörter, und angesichts der Realität, welche jedem bestens bekannt sein dürfte, so er des Lesens, Hörens und Verstehens mächtig, präzisiert der Dichter die begrenzende Erzählung „Nation“ anhand wesentlicher Merkmale folgerichtig durch die gedankliche Einheit „Henkerland“.

Was bei den in der Aufzählung angegebenen Wörtern von den Gesellschaften als vorhandenes Wissen ausgegeben, entpuppt sich bei sorgfältiger Analyse der Fakten tatsächlich nur als Glauben, also einer Haltung der persönlichen Zustimmung, gepaart mit einer positiven Einschätzung, was den Dichter dazu nötigt, auch die Definition des Wortes „Glauben“ richtigzustellen, also jenes, was gutzuheißen ist und was nicht gutzuheißen ist:   

Vision

Begehe die Erde behutsam,
sie spiegelt deinen Körper.
Unterwirf dich nicht –
Weder Gott, den Eltern noch einer Idee.
Glauben bedeutet zu lieben, nicht unterworfen zu sein
und nicht zu unterwerfen.

Disput mit Gott

Wenn Kinder geboren werden,
ihren ersten Erfolg haben,
den ersten Milchzahn bekommen,
das erste Wort sagen,
wenn sie sterben
durch Hunger, eine Kugel, abgereichertes Uran
heben wir sie hoch
vor Freude und Trauer,
als Beweis für deine Existenz,
aus Protest gegen dich.

Spätestens mit diesem Gedicht wird deutlich, dass sich die Feststellungen des Dichters nicht auf sein Herkunftsland beziehen. Ist es doch nachweislich nicht sein Herkunftsland, welches bei den Kriegen im Irak, in Syrien und Bosnien abgereichertes Uran verwendete, sondern jene Länder, welche auch weiterhin darauf bestehen, Uranmunition einzusetzen, was dazu führte, dass die „Nationen“ USA, Großbritannien, Frankreich und Israel im Jahr 2015 die 6. UN-Resolution zur Ächtung der DU-Waffen ablehnten.

Ferner wird daraus ersichtlich, dass dem Dichter auch noch der Unterschied zwischen den drei Weltreligionen und dem Monotheismus bekannt ist. Legitimieren sich doch alle drei Weltreligionen durch den Satz „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ im ersten Buch der Thora, dem Buch Genesis, so als hätte da ein Bäcker ein Brot hergestellt. Was deren Klerikern ermöglichte, sich zwischen dem Bäcker und das Brot zu schieben, also zwischen jenem, von dem sie behaupten, es habe sie hierzu aufgefordert, und ihren Mitmenschen, um über diese Anmaßung nach Gusto ex cathedra – also kraft „höherer Entscheidungsgewalt“ – durch „Auslegung“ bestimmen zu können, sich dazu sogar in dem Wahn befindend, dafür die Gebote des Bäckers ignorieren zu dürfen. Diese Anmaßung als solche erkennend, wendet sich der Dichter in seinem Protest – an die Backstube.

In einem Brief an einen Freund schrieb der Dichter: „Lassen wir uns das Exil als Versuch begreifen, unsere Erfahrung zu bereichern und unsere Sensibilität für menschliche Probleme weiterzuentwickeln. Dies sind als Erstes die Gerechtigkeit, als Zweites die Freiheit und als Drittes die Liebe und Solidarität.“ Dies ist ihm zweifelsfrei vortrefflich gelungen.