Ziergeschwätz, Ziergewächs, Schafe und Dichter

bv1Als der isländische Schriftsteller Jón Kalman Stefánsson noch ein – wie heißt es so schön – „unbeschriebenes Blatt“ war, arbeitete er in der Fischindustrie, um das Geld für den Druck seines ersten Buches zusammenzubringen. Als er schließlich den Arbeitskollegen stolz den selbstverlegten Gedichtband zeigte – kurze Gedichte, jedes auf seiner eigenen Seite – sprach einer aus, was alle dachten: „Platzverschwendung!“.

Wenn Worte Fische wären, wenn sich ihr Wert danach bemäße, wie viele sich im Netz befinden, wenn es dabei um lang und breit ginge, und wie leicht sie sich zerlegen ließen, trockene Worte, gesalzene, aalglatte und solche, die nur zur Zierde eingefangen werden …

01skrudurDas isländische Wort skrúðmælgi bedeutet „Zier-Geschwätz“. Skrúð (Pracht, Zier, Ornament) findet sich auch im Wort skrúðgarður, Ziergarten. Vor über 100 Jahren schuf der Schulvorsteher von Núpi im Dýrafjörður mit seinen Schülern eine Gartenanlage, die noch heute besteht. Skrúður, wie er sie nannte, war ursprünglich mehr ein Nutzgarten als ein Ziergarten. Hier findet sich heute unter anderem auch ein Kraut, das in den 1920er Jahren als Zierpflanze nach Island kam. Mit seinen feinen weißen Blütendolden und dem üppigen Blattwerk bietet skogarkerfill, der Wiesenkerbel, einen angenehmen Anblick, hat sich aber inzwischen als wahre Landplage erwiesen, denn er verbreitet sich explosionsartig und laugt die Böden aus.

03Kann man den aus den Ziergärten ausgebrochenen Kerbel mit Ziergeschwätz bekämpfen? Jein.

Die Gemeindeverwaltung Ísafjarðarbær kündigte kürzlich ein Experiment zur „ökologischer und nachhaltiger Vernichtung von Kerbel“ an unter Hinweis, dies sei die Formulierung in skrúðmælgi.

Nun ist blumiges Geschwätz allerorts nötig, wenn es gilt, Projektfördermittel zu ergattern oder/und einem Vorhaben einen wissenschaftlichen Anstrich zu verleihen. Jedoch in einer schönen Form der Selbstironie folgte der ziergeschwätzigen Formulierung sogleich die mannamál-Fassung. Mannamál heißt menschliche Sprache und hat als Gegensatz zu skrúðmælgi die BedeutungKlartext“ oder, was hier besser passt: „in unverblümter Sprache“. In dieser entblättert sich das Projekt als vielblättrige Aufgabe für zwei Mutterschafe und ihrer vier Sprösslinge.

Ein paar Worte zum historischen Kontext: Einst bevölkerten unzählige Schafe auch kleine und größere isländische Orte, sicherlich oft zum Verdruss der Bewohner, die Wert auf Zier- und Nutzgärten legten. Schafe sind Feinschmecker und lieben die kulinarische Abwechslung, sie haben sicherlich dafür gesorgt, dass sich Zierpflanzen nicht zu sehr verbreiteten. Jedoch scheint das Wissen, ob Schafe besonders gerne Kerbel fressen und wenn, wie viel, seit Reduzierung der Schafbestände und Einführung der vor jedem Ortseingang in die Straße eingelassenen Tiersperren (Viehgatter bzw. rimlahlið genannt) verlorengegangen zu sein.

06Nun sind die hornlose dunkelwollige Svarta-Hrönn und die hellhaarige gehörnte Ljúfa auf Probe bei der Gemeinde angestellt, um im Dorf Suðureyri, das besonderen Wert auf seine nachhaltig betriebene Fischerei legt, den Kerbel abzuarbeiten und dabei ihre vier Lämmlein anzulernen. Zu diesem Zwecke wurde ein kerbelreiches Areal zwischen zwei Häusern am Ende der Hauptstraße mit doppeltem Elektrozaun umrahmt und ein Informationsschild aufgestellt. Die Mutterschafe machten sich anfänglich entzückt an die Arbeit, während die Lämmlein den herben Kerbelgeschmack sozusagen mit der Muttermilch aufsogen.

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Das abzufressende Areal umfasst auch das Denkmal für den Dichter Magnús Hj. Magnússon, der hier in einer Kate am Abhang über dem Ort seine letzten Lebensjahre verbracht und der Nachwelt unter anderem 4.000 Tagebuchseiten aus fast einem Vierteljahrhundert hinterlassen hat. Er hatte das Häuschen, das er zwei Jahre vor seinem frühen Tod erwarb, Þröm (Ecke, Kante) getauft und daher nannte man ihn Skáldið á Þröm, den Dichter an der Kante.

Die Kindheit des 1873 geborenen Magnús war durch Krankheit und grausame Behandlung geprägt. Er bezog viele Jahre lang Armenunterstützung, verfasste Auftrags-Liebesgedichte, gereimte und ungereimte Nachrufe und Eingaben, arbeitete als Tagelöhner in der Fischverarbeitung und als Wanderlehrer. Die Verführung einer 14-jährigen Schülerin brachte ihn 1911 für ein Jahr ins Gefängnis nach Reykjavík. Vier der sechs Kinder, die er zusammen mit seiner Lebensgefährtin hatte, starben früh.

Die über 23 Jahre geführten täglichen Tagebucheinträge, die immer mit einer kurzen Wetterbeschreibung beginnen, zeigen, wie eng vertraut der Außenseiter als Liebesbote, Nachrufer und Geschichtentransporteur mit den Geschicken seiner Mitmenschen war. Neben Einblicken in das Leben, Denken und Dichten von Magnús bieten die Tagebücher daher auch mannigfache sozialgeschichtliche Informationen.

Magnús schreibt in einem 1914 verfassten Lebensrückblick, vom neunten Lebensjahr bis 1896 habe er das Gefühl gehabt, überall offenbare sich ihm das Antlitz Gottes. „Mir war, als höre ich die ganze Natur einstimmen in den Klang der Offenbarung des Göttlichen und ich sei auch inmitten dieser Stimmenflut. Mir schien mein Ich so klein in diesem himmlischen Glanz.”

Aus diesen knappen Zeilen macht Halldór Laxness eine blumige, wenn nicht gar eine etwas ziergeschwätzige Erweckungsszene, die sich allerdings mit der Aussage, dass sich das Göttliche nicht über Worte offenbart, selbst wieder zurücknimmt:

„Niemand auf dem Hof ahnte, dass der Junge in direkter Verbindung zu Gott stand, und niemand auf dem Hof hätte es verstanden. Alle auf dem Hof hörten weiter das Wort Gottes aus einem Buch. Nur er wusste, dass diese Menschen Gott nie verstehen würden, selbst wenn sie tausend Jahre lang sein Wort hörten, und Gott würde vermutlich kaum darauf verfallen, sie an sein Herz zu nehmen.“

Magnús, dem Ziergeschwätzigkeit wohl ebenso fremd war wie laxnessche Ironie, hat die Passage über den Klang der Offenbarung des Göttlichen in seinen Lebenslauf eingefügt, um die Entstehung seines Vierzeilers zu erklären, der da lautet:

„Þegar sálar augum á
alheims lít ég búa.
Ó, hvað lítill er ég þá
í öllum þessum grúa.“

(Wenn ich mit den Augen der Seele auf des Weltalls Bewohner sehe, oh, wie winzig bin ich da in diesem ganzen Schwarm)

Der Klang der Offenbarung des Göttlichen hat nach Laxness, der den ersten Teil seiner Weltlicht-Tetralogie danach benannt hat, auch den Künstler Ragnar Kjartansson und den Komponisten Kjartan Sveinsson zu einer gleichnamigen Produktion inspiriert, die 2014 an der Volksbühne Berlin Premiere hatte. Wer heute Laxness’ Weltlicht liest, ahnt nicht, dass der „Ljósvikingur“ tatsächlich existierte. Laxness hat nicht verheimlicht, Magnús zum Vorbild für die Romanfigur Ólafur Kárason genommen zu haben, was für seine Zeitgenossen ja auch offensichtlich war. Doch in welchem Umfang er aus dessen Aufzeichnungen schöpfte, lassen erst die von Sigurður Gylfi Magnússon 1998 unter dem Titel Kraftbirtingarhljómur Guðdómins (Klang der Offenbarung des Göttlichen) veröffentlichten Tagebuchauszüge von Magnús Hj. Magnússon erkennen.

In den Westfjorden entstand 2012 ein Theaterstück über Magnús, und sicherlich ist auch sein Todestag, der sich am 30. Dezember 2016 zum einhundertsten Male jährt, ein Anlass, dort seinem Werk wieder zu begegnen.

05Erst einmal aber sind die verwitterten Stufen hinauf zum Magnús-Denkmal für Menschen gesperrt. Da Schafe gern menschliche Bauten und Straßen nutzen, erkundeten Svarta-Hrönn, Ljúfa und ihre Sprösslinge das steinreiche Monument sofort; inzwischen dient ihnen das Fundament als Terrasse, Aussichtsplattform und Schattenspender.

Doch den Kerbel, so schien es, hatten sie wohl gründlich satt. Bei näherem Hinsehen stellte eine botanisch versierte Person fest, dass die Schafe den herben Wiesenkerbel (skógarkerfill) tatsächlich ganz abgefressen haben, die ähnlich aussehende Süßdolde (spánarkerfill) aber nicht anrühren. Dieses, auch Spanierkerbel genannte Kräutergartengewächs, das nach Anis duftende Blütendolden und üppigeres Blattwerk hat, breitet sich zusammen mit dem Wiesenkerbel in Suðureyri und anderen Orten der Westfjorde ungehindert aus.

Von Süßdolden und anderem süßen Zierzeug lassen sich Ljúfa und Svarta-Hrönn offensichtlich nicht beeindrucken, sind sie es doch gewohnt, ihre Lämmer hinauf in die Berge zu führen, wo die Vegetation karg, aber herbwürzig ist. Magnús, hat bei seinen vielen Gängen von Fjord zu Fjord (damals führten nur Pfade über die Bergpässe) auch botanische Studien betrieben und 43 verschiedene Kräuter gezählt.

Der mit 43 Jahren verstorbene Skáldið á Þröm hätte sich kaum darum geschert, welches Schaf  heutzutage am Hang herumklettert, wenn nur kein Schurke (illmenni) die Blume des Glücks ausrottet (upprætir hamingjublóms). Doch wo wächst sie?

„Wer sie entdeckt“, schreibt Halldór Laxness in der oft zitierten Passage über die schönste Blume, die an einem verborgenen Ort lebt, „für den gibt es keine andere Blume mehr. Den ganzen Tag denkt man an sie. Wenn man schläft, träumt man von ihr. Man stirbt mit ihrem Namen auf den Lippen.“ (Weltlicht IV, Kap. 22).

02Den Dichterpfaden, die ins blumige Reich der Metaphern führen, folgen Ljúfa und Svarta-Hrönn nicht. Sie träumen allenfalls davon, befreit von Elektrozäunen, Ziergeschwätz und -gewächs 43 namenlose Bergkräuter zu verkosten, die schönsten auf den Lippen zergehen zu lassen und genüsslich wiederzukäuen.

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