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Das Gehege

troll-imadeWEB-1Wollte einer den Zustand Europas beschreiben, es wäre jener eines formvollendeten Zuges, dessen Fenster sich nicht öffnen ließen bei nicht funktionierender Klimaanlage. Und sollte es sich bei dem Zug um einen solchen handeln, dessen Fenster sich öffnen ließen, es fände sich sicherlich mindestens einer in jedem Waggon, der herbeieilte, bei 27 Grad Außentemperatur Hand an dieses legte, es nach oben schöbe, um nach vollzogener Tat seine Dialogbereitschaft und selbstlose Anteilnahme offenzulegen: „ES ZIEHT!“

Rifkin faselte in seinem Buch „Die empathische Zivilisation“ etwas von einem „empathischen Bewusstsein“, welches durch ein „Hineinversetzen“ die Welt retten werde. Er plädiere für einen Wandel hin zu einer überlebensfähigen Zivilisation, die auf einer neuen Energie-Weltordnung, auf einer gerechteren dezentralen Verteilung, und vor Allem auf die Entwicklung weltweiter Empathie und Solidarität sich gründe.

Richard Rorty verwies auf den Vorrang von Toleranz und Demokratie vor zeitloser Wahrheit, auf der Grundlage von Einbildungskraft, Sensibilität, Solidarität, und Mitgefühl.

Die westliche Zivilisation, der Inbegriff an Einbildungskraft, Sensibilität, Solidarität und Mitgefühl, hatte sich auf den Weg gemacht, darüber seine Hoffnung zu realisieren, das Leiden zu verringern, da mit der Fähigkeit ausgestattet, fremde Menschen als Leidensgenossen zu sehen, im Prozess, in dessen Verlauf wir allmählich andere Menschen als „einen von uns“ sehen statt als „jene“.

Sicher ist, dass – auf Grundlage dieser Einbildungskraft, Sensibilität, Solidarität und solchem Mitgefühls – nun schon seit Jahren die aufgedunsenen Leiber abertausender Kinder, Frauen und Männer das Mittelmeer füllen, und es sich weiter füllen wird mit solchen Kindern, Frauen und Männern, die lieber den Tod in Kauf nehmen als dieses Leben; ausgeliefert von geldgierigen Schleppern, ermordet von untertänigen Schergen, die von Autochthonen aus Prozessen heraus beauftragt, welche von diesen als demokratische anerkannt.

Den ungezählten Ertrunkenen und Verdursteten war unbekannt geblieben, dass das identifizierende Merkmal westlich zivilisierter Gesellschaften mit ihrer neuen Energie-Weltordnung nicht nur deren völlige Unkenntnis über sich selbst ist, sondern deren Unkenntnis mittlerweile soweit fortgeschritten war, dass ihnen sogar die Zusammenhänge zwischen Wetter und Kleidung abhandenkamen, und daher zum Beispiel in Deutschland die Moderatoren der gängigen Musiksendungen gezwungen sind, die rund um die Uhr dudelnde einheitliche Musikfarbe alle Viertelstunde zu unterbrechen, um im Tonfall depressiver Trauer den Autochthonen, die gerne in vollklimatisierten Autos unterwegs sind, die Neuigkeit mitzuteilen, dass das Tief „Erika“ zwar leider immer noch Dauerregen beschere, allerdings am Donnerstag nach diesen unzumutbaren Verhältnissen endlich wieder mit Temperaturen oberhalb von 27 Grad Celsius zu rechnen sei, und dann die Welt wieder im Lot wäre.

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Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung

Was die Frage erlaube, worin der Nutzen solcher  Nachrichten läge, die darüber informieren, was hinlänglich bekannt sein dürfte, würde einer auch nur einen einzigen Blick durch die Windschutzscheibe seines SUV wagen, und welcher Nutzen aus der Aussicht zu gewinnen wäre, in drei Tagen könnte eventuell das Thermometer endlich wieder jene Grenze durchbrechen, welche den Schülern zwar einstmals das ersehnte „hitzefrei“ bescherte, diese Praxis jedoch in den Schulen von den Pädagogen längst abgeschafft wurde, und in modernen Zeiten informieren heutzutage die Führungskräfte der global spielenden Unternehmen erst ab 37 Grad Celsius via e-mail ihre Mitarbeiter, mit dem aus den Staaten eingeführten vertraulichen „du“, dass nun die Krawatte nicht mehr zwingend erwartet werde.

Isländische Forscher hatten kürzlich notiert, dass sich in den letzten Jahrzehnten sowohl Temperatur als auch Salzgehalt des Golfstroms signifikant verändert habe, und so kursieren auf Island gegenwärtig gerne Witze, dass sich die Menschen nun die Sorgen sparen können, ihre Häuser würden im Meer versinken, da der Meeresspiegel durch abschmelzende Pole infolge intelligenter Leistungen nichtprimitiver Gesellschaften steigen werde. Denn bis es soweit sein wird, stünden ohnehin keine Häuser mehr, die im Meer versinken könnten, da zu diesem Zeitpunkt die Häuser schon längst von Stürmen unbekannten Ausmaßes hinweggefegt worden wären. Und wer schon einmal in einem der vierzig Stürme unterwegs war, die im letzten Winter den Aussagen zufolge erstmals seit der Landnahme Islands in dieser Häufigkeit und Intensität dort auftraten, weiß wovon die Rede ist. Allerdings wissen Isländer bereits seit Jahrhunderten, dass es kein schlechtes Wetter gibt, sondern nur schlechte Kleidung.

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Post-Technologie

Es ist davon zu lesen, dass die Menschen einem Glauben oder System nach dem anderen folgen würden, und von allen glaubten sie, sie würden Antwort liefern, also das, was alle Probleme lösen werde. Im Westen zum Beispiel seien die Menschen zuerst der Religion gefolgt und verwarfen sie dann zugunsten der “Vernunft”; danach setzten sie all ihr Geld auf die Industrie und schließlich auf die Technologie. Und solange ihnen die Allheilmittel nicht ausgingen, würden sie von dieser Gewohnheit wohl nicht geheilt werden.

Niklas Luhmann notierte, „…dass die moderne Gesellschaft die durch sie betroffenen Individuen zu entgegengesetzten Einstellungen anreizt: Zu Empathie und zu Borniertheit … Dabei ist es nicht das Problem, dass das Individuum borniert denkt. Das sowieso. Was auffällt, ist die Kommunikation bornierter Meinungen in der Erwartung von Zustimmung – wenn nicht von allen, dann doch von Gleichgesinnten“.

Auf diese Weise entstand eine Kultur, welche der Ansicht ist, die Mutter von Albert Camus sei eine Analphabetin gewesen, da sie nur über einen “Wortschatz von 400 Wörtern” verfügte, und versetzte sich als „empathische Zivilisation“ in die Situation des Ertrinkenden im Mittelmeer, ist entsetzt, empört, betroffen, schockiert, und schüttelt den Kopf. Solange in der Hauptsache selbst nicht verhandelt. Mitleiden aus Hineinversetzen als Tranquilizer für vorhandene Blasiertheit. Ein Wortschatz von 400.000 Wörter macht offensichtlich nicht zwingend intelligenter, sondern nur eloquenter.

Selbst die Heringe und Makrelen des Atlantiks hatten genug von solcherart Selbsttäuschung, suchten vor den Auswirkungen solcher Klugheit und Güte Zuflucht in isländischen Gewässern: lieber gedunsen kieloben auf Wasserflächen in kaltem Wasser treibend und vom Gift der isländischen Aluminiumhütten willkommen geheißen, als in warmer Brühe verenden. In der Hoffnung, vorher von barmherzigen isländischen Fischern einer nützlicheren Bestimmung zugeführt zu werden. Und die isländische Band Jói á hakanum (weißer reaktionärer Hinterwäldler auf Sparflamme) spielt passend dazu ihren Þýskublús ( Deutschblues):