Mein Name sei Selfisch

Sich in einer vorgefertigten Umgebung zurechtzufinden ist doch so viel leichter als in einer, die auf eigenes Risiko erkundet werden muss. Dann hätte Selfisch sich ja auch einen eigenen Standpunkt zu erarbeiten. In einer Welt aber, die meist nichts als graue Alltäglichkeit ausstrahlt, und sich nur wenige Wochen im Jahr zur bunten Urlaubskulisse mausert, soll doch bitte nichts dem Zufall überlassen bleiben. Bei allen Selfischen werden daher Kreuzfahrten immer beliebter, denn sie garantieren eine nahezu märchenhafte Vollversorgung. Nach den meist vororganisierten Landgängen kehrt der Kreuzfahrer zufrieden auf sein schwimmendes Hochhaus zurück, das über alles verfügt, wofür der Reisende, wäre er zuhause geblieben, einige Wegstrecken zurücklegen müsste: Restaurants, Shoppingmall, Schwimmbad, Fitnesscenter, Friseur etc. Und kostenlos dazu das wohlige Titanic-Kribbeln.

(Bild: Bernhild Vögel)

Früher waren es überwiegend Rentner, die sich nach einem langen Arbeitsleben den Luxus der Rundumversorgung gönnen wollten, heute werden die Kreuzfahrer immer jünger – ganz sicher auch eine Folge der Verdichtung des Arbeitslebens. In den meisten Betrieben regiert Angst und gäbe es ein Thermometer für Betriebsklima, es würde anzeigen, dass die Temperatur in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gesunken ist – das ist zwar bedauerlich, aber zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit unbedingt notwendig und daher begrüßenswert.

In diesem kühlen Klima des Neoliberalismus benötigen Selfische Nestwärme und keine so genannte Freiheit, eine Freiheit, die zum selbständigen Denken und Handeln antreiben und damit nur weitere Verunsicherung schaffen würde. Was Selfische brauchen, sind Selbstverkündungsapparate und smarte Sichvergewisserungsmaschinen.

Und da werden wir sogleich als narzisstisch und als Generation Selfie beschimpft. Doch halt! War das früher, im vorigen Jahrhundert, anders? Haben etwa die heutigen Seniorinnen vor 60, 70 Jahren nicht stundenlang vor dem Spiegel gestanden? Haben sich die Opas nicht ehemals aufwendig um ihre Schmalzlocken á la Elvis gekümmert und ein wenig später kollektiv ihre langen Protestmähnen geschüttelt? Ein ordentliches Quäntchen Narzissmus und Orientierung an Vorbildern, um das Erwachsenwerden hinauszuzögern – das ist das Privileg der Jugend – ein keineswegs unproblematisches, sagen Kritikaster, denn gerade Jugendliche könnten, wie Geschichte und Gegenwart zeige, aufs schändlichste manipuliert werden. Da mag was dran sein, doch deswegen wachsen uns bestimmt keine grauen Haare! Und wenn, dann färben wir sie einfach und setzen rosarote Brillen auf.

Die Zeit der Jugend wird immer länger und länger, das ist eine tolle historische Entwicklung. Dennoch fordern neidzerfressene Zeitgenossen, Jugend solle irgendwann ein Ende haben und in eine gewisse Eigenständigkeit münden. Dies beinhalte, den Drang nach Selbstdarstellung zu drosseln und die Welt nicht nur als Kulisse oder Fototapete zu betrachten. Papperlapapp!

Ich gebe ja zu: Auch ich musste lachen, als ich das erste Mal jemanden (und es war fürwahr kein Jugendlicher) mit einem Selfie-Stick hantieren sah. Dies Gestänge erinnerte mich irgendwie an die Kopfschirme, die, einst als Regenschutz angepriesen, allenfalls einen Nischenplatz in der Faschings- und Partyecke gefunden haben, also dort, wo Peinlichkeiten geradezu erwünscht sind. Kaum jemand, dachte ich, wird diese Selfie-Stangen kaufen. Tja, falsch gedacht. Und ich, auch damals schon tief im Herzen ein eingefleischter Selfisch, gab mich bald willig dem Selfie-Tick hin.

Dass sich Mensch gerne fotografieren und abbilden lässt, ist nichts Neues, und das Herumzeigen von Fotoalben hat es auch schon vor Facebook gegeben. Doch was wurden im letzten Jahrtausend für Fotos geschossen? Schaut Euch dies mickrige Schwarz-Weiß (links) an, das eine unbekannte deutsche Kreuzfahrerin gegen Ende der Amtszeit von Queen Mary schoss: Da stehen zwei deutsche Winzlinge vor dem übermächtigen Round Tower des Windsor Castle. Wer sind die denn? Auch eine Lupe half dem Betrachter nicht weiter! Es geht auch anders – und besonders einfach seit der Erfindung des Sefie-Sticks (rechts): die Herunterdimensionierung der Kolosse, Kolosseen und Naturschauspiele. Damit immer das Ego im Mittelpunkt steht.

(Bild: Bernhild Vögel)

Unter dem Pflaster liegt der Sand, skandierten Anarchos in den 1970ern, so ein Quatsch, denn unter dem Pflaster verlaufen Rohre und Tunnelsysteme und im Pflaster eingelassen sind runde Gullys oder beschriftete Platten. Über Gedenksteine stolpern Selfische unbekümmert; Informationen treten sie mit Füßen; steinerne Einlassungen mit düsteren Botschaften übertreten sie leichtfüßig. Selfische konjugieren nur: Ich lebe, ich lebe, ich lebe.

Platten aber mit der Aufschrift Selfie-Point, wie auf dem Burgplatz in Braunschweig, betreten wir hocherfreut. Denn dieses so nützliche, aber dennoch viel bespottete Kopfstein-Marketing erspart dem Selfisch viel Zeit bei der Suche nach dem perfekten Klick.

(Bild: Bernhild Vögel)

Wie aber ist eigentlich der Hintergrund beschaffen, vor dem ich als Selfisch einen vorgefertigten Standpunkt einnehme? Am Beispiel Braunschweig lässt sich das eindeutig sagen: Der Schwerpunkt  liegt auf dem Nachgefertigten, zum Beispiel der Rekonstruktion einer Burg nach dem historistischen Geschmack des 19. Jahrhunderts. Der mittelalterliche Dom nur schräg angerissen, denn stirnseitig, wie es die Platte neben dem Sefie-Point vorgaukelt, ist er nicht ins Bild zu kriegen. Was Selfischen nichts ausmacht, denn ihr Bedarf an Uralterlichem wird schon von der Burg befriedigt.

Während der Fotograf sein Motiv im Sucher oder Display vor Augen hat, wenden Selfische sich ab, kehren der Sehenswürdigkeit den Rücken zu und blicken in Richtung des Sehensunwürdigen oder zumindest Unspektakulären. Es erfordert Übung, sich nur auf sich selbst, auf sein Spiegelbild im klitzekleinen Display – noch dazu in Stangenentfernung – zu konzentrieren und so zu tun, als sei man entzückt vom Anblick dessen, was sich in der Rücksicht befindet und was man nur  schemenhaft im Display wahrnehmen kann. Am besten, Selfisch grinst sich selbst an, dann kann nichts schief gehen.

Ich stehe auf dem Selfiepunkt, dass Rücksicht und Vorsicht identisch sind, denn hätte mein Hinterkopf Augen, würden sie dieselbe Kulisse sehen, die ich hinter meinem Konterfei auf dem Display erblicke. Spieglein Spieglein an der Hand, wer …

Mancherorts freilich ist Vorsicht geboten, denn hat sich Selfisch nicht fest auf einem Selfie-Point verankert, schwebt er in Gefahr, einen verhängnisvollen Rückschritt zu tun. Selfisch wünscht sich eine Million Selfie-Points in Island, wo es lebensbedrohlich werden kann, den falschen Standpunkt einzunehmen, zumal weil man dabei der Gefahr ja nicht ins Auge blicken kann.

[Um weitere tödliche Unfälle auf Ísland wegen Wahl eines ungeeigneten Selfiepoints zu verhindern, weist die Redaktion vorsorglich darauf hin, dass das Foto eventuell nicht mitgenommen werden kann. Die Herausgeber.]